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Nadine Kegele sie kursiv er Standard rechts von Tanger 1939 aus an das Ende (11.2.1942) links von Tanger 1939 aus an den Anfang (9 Jahre alt) Ob ich nicht endlich reisen will. Jetzt, wo ich wieder darf. Dezember 38. Benhayon aus Gibralter. Ich denke doch gar nicht daran zu wollen. Ich bin meine Vorsätze: Morgen zu Cook’s Office gehen müssen. Dieses Ticket holen sollen. Mein Glück im Unglück wenigstens dort probieren können, wo Europa auch am Meer liegt. Mein letzter Brief Poste Restante Tanger kommt vom „Zerstörer Theodor Riedel“. 2 The army fell / for little Judy Belle / The Privates fell / The Officers as well / and discipline went to pot. 2 Wie wenig mich seine Marineübung juckt. Vor Tanger war er mir lieber. Männer aus Fleisch und Blut sind mir immer lieber als Männer aus Papier. Ja, Gustav, meinem Fuß geht's wieder besser. Nein, Gustav, ich schreib dir nicht, warum's mich ausgerechnet nach Afrika verschlagen hat. Würdest du mich verstehen wollen? Die Mama hat gesagt, ich soll nicht meine Sprachen vergessen. Mein Französisch, Englisch und Arabisch. Ganz genau: Arabisch. Ich hör’, ich versteh's und das Schreiben betreib ich kalligraphisch. [ In den Schwüngen dreh ich mich mit, eins zwei drei, eins zwei drei ] Punkt. Kann man Sprachen für was Besseres verwenden als für die Liebe? Die Liebe ist in jeder Sprache kompliziert. Was bedeutet, dass man mehr davon machen soll — damit man sie mit jeder neuen Lieber besser verstehen kann. En-gage-ment ... Voy-age, Voy-age ... Vom Französischen ist meine Zunge ganz beschwipst. Fés— Tanger, troisiéme classe, pour Mademoiselle Judith, bientöt dans le „Kursaal Imperial“. [ Koffergrammophon — #2 Dans le jardin de mes r&ves — Tino Rossi ? ] Mein größtes Talent ist meine Einbildungskraft. Mit der hab ich mir schon in der Schweiz eine Räuberleiter gebaut, als Feldkirch seine Kinder nicht durchzufüttern vermochte nach dem Krieg. Doch was nützt was zu beißen, wenn man's vor Heimweh nicht schlucken kann? Jetzt wär's wieder an der Zeit. Herausklettern aus meiner Lage, zurückklettern ... Afrika zerrinnt mir zwischen den Fingern. Der Kursaal kommt von einem Deutschen, das Interieur von einem Franzos. Alles ist so Belle Epoque hier. Und überdimensional. Im Tanzsaal tret ich auf. Im Kasino sammle ich Kontakte. Auf der Terrasse studier ich die Ozeanriesen aus strahlend lackiertem Holz. Ihr Herausschneiden aus den Wellen. Ihre geschmeidige Landung. „Reisen verboten.“ Mein Glück. Bin ich halt die, die noch länger in Tanger bleiben darf. Tanger! Für mich ist das der Hafen und die Medina. Selbst wenn sie garstig sind. Ich schau ja aus wie ein Spion. Am Liebsten würd ich dann das Minarett hochsteigen und in die Stadt hineinrufen: „Ich komme nicht als Kreuzritterin, sondern als Tänzerin!“ Dem Karl schreib ich, seine Schwester hat nichts mehr zu lachen, seit sie Deutsch geworden ist. Vielleicht tu ich ihm leid. Ich könnt‘ ein bisschen Verständnis brauchen. Im Moment fress ich meine letzte Gage auf. Aber ich hab nicht vor die Marianne zu werden. Ich werd nie auf unsere Eltern angewiesen sein. So lieb der Robert ist, aber in den Abgrund zieht der sie schon, zumindest in einen kleinen. Über die maghrebinischen Patschen wird sie sich freuen. Auf der Post hab ich einen kennengelernt, Ich halt was aus. Also halt ich das durch. Egal was kommt. Zuerst kommt ein Zittern auf mich zu. Dann das Schiff Ich schwöre, ich komm zurück! Ich schwör's der Möwe, die meinen Namen in den Himmel schreit. Jeder Welle, die sich in den Hafen drängelt, um mich zu verabschieden. Bei meinem Hunger nach diesem Land kanns nur eins geben: zurück kommen oder verhungern. Merde! Wie komm ich dazu, eine Politik zu sein? Ich hab hier was gemacht aus mir, ich werd auch in Europa verstehen jemand zu sein. Tanguista aus Tanger, 28, der blonde Star aus Afrika — ab Jänner 39 endlich auch auf den Bühnen Portugals. Sehr geehrte UFA Berlin! Lisboa, 2. April ’39. Du. Du bist die Hoffnung, das Filmstudio möge dich aus der Fatalität der internationalen Lage befreien. Gibt Schlimmeres als eine Hoffnung zu sein. Gibt Besseres als zu behaupten, dass du unbedingt nach Deutschland willst. Garantiert nicht bereuen würden sie es, dich zu engagieren, noch nicht mal als kleine Figurantin. Du bist eine Erscheinung. — Es war einmal, dass du sogar der berühmte Star des deutschen Kinos warst. In Ägypten war das. War damals schon nicht gelogen, nur zeitlich vorgegriffen vielleicht. Also, liebe UFA, wie wärs? Du bist deine Bitte um eine werte Antwort und — ein Heil usw., das bist du ab nun auch, wenn dus für angemessen hältst. November 2019 29