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Manfred Wieninger Grasel Seinen triumphalsten, wenn auch letzten Auftritt hatte er am Morgen des 31. Jänner 1818 auf dem Rossauer Glacis — in der Nähe der der heutigen Rossauer Kaserne - in Wien. Trotz des Winterwetters waren an diesem Samstag rund 60.000 Wienerinnen und Wiener gekommen, um ihn sterben zu schen. „Jessas, so vü Leit‘!“, meinte das prominente Landei, das bis heute als bekanntester „Räuberhauptmann“ Österreichs gilt. Nur Minuten zuvor hatte man seine Freunde und Komplizen Ignaz Stangel und Jakob Fähding am Galgen aufgehängt. Ersterer war vor Angst und Schrecken ohnmächtig geworden, und zwar schon bevor ihn der Strick zu würgen begann. Auch Fähding war halb bewusstlos, als er gerichtet wurde. Das Landei dagegen, damals prominenter als so mancher Erzherzog, trat gefasst unter den Strang, nachdem es zuvor eigenhändig den Rock ausgezogen, seinen Hals frei gemacht und ein Kreuz (und den Henker, wie manche Quellen berichten) geküsst hatte. Die Rede ist von Johann Georg Grasel, im Österreich der Napoleonischen Kriege so etwas ein insgeheimer Held der kleinen Leute, die ihn zum Robin Hood des Waldviertels und angrenzender Gebiete hochstilisierten und oft hemmungslos bewunderten. Denn so wie er war noch kein Angehöriger einer sozialen Randgruppe, einer verachteten Minderheit mit der Obrigkeit umgesprungen; jahrelang hatte er Grundherren und deren Gerichte, Militär- und Polizei-Behörden sowie den hochlöblichen Wiener Magistrat zum Narren gehalten und sich über alle Regeln hinweggesetzt. Mit dem Todesurteil präsentierten ihm die Oberen nach einem über eineinhalb Jahre dauernden Prozess die Rechnung. Der 1790 geborene Grasel stammte aus einer Familie von Abdeckern, einem weithin verachteten Berufsstand, der von der Hand in den Mund leben musste und dessen elende Wohn- und Betriebsstätten, die sogenannten Wasenmeistereien, außerhalb der Städte und Siedlungen zu liegen hatten, nicht nur wegen der Geruchsintensität des Schinder-Handwerkes, sondern weil das Gewerbe auch zu den am geringsten geschätzten Berufen der damaligen Zeit gehörte, um es einmal nobel auszudrücken. Für breite Schichten der österreichischen Bevölkerung war das Zeitalter der Napoleonischen Kriege nicht gerade ein Honiglecken, ganz im Gegenteil. Die Kriegswirtschaft und die rapide ansteigenden Schulden des Staates führte zu einer Hyperinflation, die viele völlig verarmen ließ. Im Juli 1805 wurden in Wieden und anderen Bezirken Wiens die Bäckereien geplündert. Militär schritt ein, es gab zahlreiche Tote und Verwundete. Derartige Hungerrevolten wiederholten sich in mehr oder regelmäßige Abständen nicht nur in der Reichshaupt- und Residenzstadt. Zudem presste der Staat aus der Bevölkerung möglichst viele junge Männer heraus, um sie als Kanonenfutter in den Krieg zu schicken. Eine relativ hohe Anzahl von Deserteuren vergrößerte das Heer der Fahrenden und Vagabunden, der Jenischen, der Kriegerwitwen und Waisen, die auf den Landstraßen der habsburgischen Länder ihr jammervolles Leben fristen mussten. Johann Georg Grasel hatte aufall das eine Antwort, wenn auch eine kriminelle. Die Reichen hat er übrigens nie bestohlen, denn deren Schlösser, Villen, Manufakturen und Herrensitze waren viel zu gut gesichert. Den Armen hat er wohl gegeben, vor allem den Abdeckern, die ihn in ihren Wasenmeistereien versteckten, und seinen Hehlern ... 32. ZWISCHENWELT Weltweit gibt es rund 120 echte und vermeintliche Nachfahren des Rauberhauptmanns, die sich alle paar Jahre im ,,Gasthaus zur Grasel-Wirtin“ im niederösterreichischen Mörtersdorf bei Horn treffen. Ihrem Vorfahren hat dieses Wirtshaus allerdings kein Glück gebracht: Am 20. November 1816 wurde er dort nach einem wilden Gerangel von einem erfahrenen verdeckten Polizeiermittler aus Brünn namens David Mayer zu Boden geworfen sowie von zwei zufällig anwesenden Soldaten und mehreren Mörtersdorfer Bauern fixiert und gefesselt. Letztere hatten sich in einem Nebenzimmer der Wirtsstube verborgen gehalten, waren aber erst mit erheblicher Verzögerung eingeschritten, und zwar als der Polizeiagent den gefürchteten Räuber und mehrfachen Totschläger bereits quasi im Kampf Mann gegen Mann zu Boden geworfen hatte, wobei auch ein gezückter Dolch dem berüchtigten Messerstecher Grasel nicht mehr helfen konnte. Als Jude gehörte Mayer ebenso einer vielfach benachteiligten Randgruppe wie Grasel selbst an. Vielleicht war es ihm deshalb möglich, das Netzwerk von dessen verbliebenen Unterstützern binnen kurzem erfolgreich zu infiltrieren und das Vertrauen des Räuberhauptmanns zu gewinnen. Einige Monate nach seiner erfolgreich abgelegten Meisterprüfung ging mein Großvater mit der von seinem früh verstorbenen Vater ererbten kleinen Tischlerei in Wien-Wieden in Konkurs; der angestellte Geschäftsführer, hieß es in meiner Familie, habe zuvor kräftigst defraudiert. Das muss 1935 gewesen sein. Nach rund zwei Jahren Arbeitslosigkeit fand mein Großvater endlich eine Stelle als Lehrlingsausbilder im Erziehungsheim der Stadt Wien im niederösterreichischen Eggenburg. Zum Dank zündete er im nahen Wallfahrtsort Maria Dreieichen eine Kerze an, obwohl er an sich so gläubig wie ein Küchentisch war. Dabei besuchte er auch erstmals die sogenannte Grasel-Höhle, die nur ein paar hundert Schritt hinter der 1760 fertiggestellten Wallfahrtskirche in einem dicht bewaldeten Geländeeinschnitt lag. Unterhalb der Räuber-Höhle wiederum befand sich am Talboden eine heilige Quelle, die unter einer Marienkapelle hervorsprudelte und deren Wasser heilende Kraft besonders bei Augenleiden zugesprochen wurde. Daß die Grasel-Höhle nichts, aber auch gar nichts mit dem historischen Grasel zu tun haben konnte, war weder meinem Großvater noch der lokalen Fama einsichtig. Der nicht unintelligente Räuberhauptmann hätte aber wohl kaum eines seiner Waldverstecke nur ein, zwei Steinwürfe entfernt von einer von zahlreichen Pilgern besuchten heiligen Quelle eingerichtet, die seit Jahrhunderten, auch schon zu seiner Zeit eine der Hauptattraktionen von Maria Dreieichen war (und bis heute ist). Während meiner oftmaligen Kinderferiensommer in Eggenburg stand jeweils auch immer ein Ausflug nach Maria Dreieichen auf dem Programm. Während meine Großmutter sozusagen für den religiösen Teil des Ausfluges, also diverse Gebete in der Wallfahrtskirche, die Besichtigung der Reste der heiligen Eiche hinter dem Hauptaltar und das Anzünden einer Weihekerze zuständig war, hatte mein Großvater die Führung zur Grasel-Höhle über. Was die lokale Fama über den Räuberhauptmann und dessen Maria Dreieichener Versteck wusste, erzählte er mir bei jedem dieser Besuche, und zwar haarklein. Zumindest was den Räuberhauptmann