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Ein kalter 1. Mai Sie sind schon lange tot. Und sie haben so viel falsch gemacht, dass erst jetzt, da ich selber in die Jahre gekommen bin, Erinnerungen aufsteigen, die mein Verhältnis zu ihnen in einem anderen Licht aufscheinen lassen... mir ihr Bild von der Liebe des Kindes her beleuchten. Tauchen wir in die Vergangenheit, meine Kindheit. Sagen wir in die frühen 50er in Wien. Wer diese Stadt als Erwachsener und im Laufe der letzten 30 Jahre kennengelernt hat, muss sich den heutigen strahlenden Glanz der alten Pracht, aber auch das neue Hippe und den Tourismusrummel wegdenken. Er muss einen Schwarzweißfilter über seine Eindrücke legen, da und dort Baulücken einfügen, Bombenkrater und Häuserruinen, bereits mit Unkraut und jungen Bäumen überwachsen. Dann möge er sich einen 1. Mai denken. Mit blühenden Kastanienriesen als Alleen zu beiden Seiten der Ringstraße. Aber einen kalten 1. Mai, als setzte die Kälte die Not des Krieges fort. Die Maidemonstranten tragen fast alle noch Wintermäntel... Seit neun Uhr früh hört das Kind die Blasmusikkapellen in die noch verschlafene Wohnung schallen. Über alle Straßen kommen sie aus den Außenbezirken und Vorstädten und marschieren zum Ring. Das Kind kann es schon nicht mehr erwarten. Der Vater lässt sich nicht drängen. Er frühstückt noch und das Gehopse des Kindes geht ihm auf die Nerven. Endlich ist es so weit. Er und das Kind an seiner Hand überqueren die Schleifmühlgasse und den Kühnplatz — Häuserruinen des alten Freihausviertels, nach dem Krieg Rattenburg, auf Wienerisch Ratzenburg genannt. Dann kommen sie zur „Bärenmühle“, einer mythischen Konditorei, von der aus man linkerhand den Anfang des berühmten Naschmarktes, gegenüber die Sezession mit ihrem goldenen Blätterdach und rechterhand das imposante Verkehrsbüro, umgeben von Strauchwerk und Wiesen, schen kann. Um diese Anlage machten die Gleise der früheren Zweierlinie einen weiten Bogen. Dort gegenüber, also an der „Bärenmühle“ hielten sie inne, um einen großen Augenblick zu erleben. Sie schauten auf die prachtvoll geschmückten Straßenbahnen, dieam 1. Mai damals ohne Passagiere fuhren. Sie fuhren einzig und allein, um sich zu zeigen, mit ihrer roten Nelkenpracht. Die Nelken nicht nur als Girlanden, sondern auf geheimnisvolle Weise dick an die damals noch sichtbaren Räder appliziert, sodass es aussah, als führen die Bahnen auf Nelkenrädern. Lautlos rollten sie zur Oper hin. Keine Geräusche, kein Quietschen, kein Klingeln, nichts war zu hören. — Geräusch gab es nur von der Ringstraße her. Von den Menschenmassen. Und immer wieder Fetzen von Blasmusik. Jetzt ging der Vater schneller. Sie waren spät dran. Und er wollte wenigstens das Ende des sozialistischen Umzugs erreichen. Kurz vor dem Parlament reihten sie sich ein, und kaum angelangt, wurde der Vater von vielen Menschen gegrüßt, Frauen und Männern. „Servus Genosse Trescher!“ „Freundschaft!“ Der Pressefotograf sprang vor Vater und Kind, fotografierte und lief weiter. Aus den Lautsprechern, hoch oben in den Kastanien angebracht, hörte das Kind die Begrüßungen der am Rathaus, auf der Ehrentribüne einlangenden Frauen und Männer. Sie wurden mit Namen begrüßt und es wurde gesagt, aus welchen Bezirken sie kamen. Manche in stundenlangen Fußmärschen aus weit entlegenen Vorstädten. In meiner Erinnerung waren hundertjährige Genossinnen und Genossen darunter. Vielleicht waren 34 ZWISCHENWELT sie aber auch nur 80. Für das Kind jedenfalls von unvorstellbar hohem Alter. Und während Vater und Kind weiter im Zug zum Rathaus hin marschierten, Hogen die Zurufe „Franz!“, „Genosse!“, Begrüßungen und ein paar Sätze hin und her. Saloppe Mitdemonstranten hatten zum Schrecken des Kindes trotz Kälte aufgekrempelte Hemdsärmel, gingen ohne Mäntel, manche sogar in kurzen Hosen, während der Vater im Mantel schritt und mit Hut, den er bei jeder Begrüßung lüpfte - und gar nicht wie einer von denen wirkte. Das Kind hielt ihn für vornehmer. Und vielleicht war er das auch, wenngleich allerärmster Herkunft. Ach, die Tränen steigen mir in die Augen. Nicht nur wegen des Vaters. Nein, es ist wegen dieses Augenblicks der Erinnerung an die Begrüßungen der alten Genossinnen und Genossen. Weil diese eine solche Strapaze auf sich genommen haben. Manche waren Kriegsinvalide, manche sind auf ihren Rollstühlen kilometerlange Straßen zum Rathaus hin gefahren. Und weil sie auf der Tribüne durch die Lautsprecher mit ihren Namen genannt, mit „Freundschaft!“ begrüßt und aufgenommen wurden. Weil das alle Jahre wieder eine so ungeheure Zusammenkunft war. Der Zug über die Ringstraße dauerte von neun Uhr bis eins. Ein altes Foto zeigt zwei von den damaligen Transparenten: NIE WIEDER KRIEG das eine und 48 STUNDEN! das andere, die Einführung des 8-Stunden-Tages. Wie viele Menschen waren das? Halb Wien war auf den Beinen. Aber auch, wenn es nur 100.000 gewesen wären. Das Kind erlebte sich in seiner Zugehörigkeit zum Vater, der offenbar ein Teil dieser Masse von Menschen war. Die Erinnerung sagt: Es spürte vielleicht auch das, was die Demonstranten spürten - eine Zusammengehörigkeit dieser vielen, vielen Einzelnen, vielleicht auch etwas von einer Macht; wenn aber Macht, dann die einer Art von Liebe. Michaela (Mischi) Steinbrück, 1944 in Wien geboren, Theaterlaufbahn 1963 u.a. am Theater in der Josefstadt und Schauspielhaus Köln. Seit 1975 als freie Autorin tätig; 1979 gründete sie das erste „Kölner Frauenorchester“. Seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierliche Tourneen als politische Kabarettistin, z.B. mit „Tschau, tschau Proletariat!?“ (1988) oder dem deutsch-griechischen musikalischkabarettistischen Solo „Kurz ist der Sommer — undendlich lang die Winter“ (1994). Ihr neuestes Soloprogrammm „Kapitäninnen der Freiheit“ (2018), eine szenisch-musikalische Performance, erzählt von drei griechischen Freiheitskämpferinnen. Der Vater Steinbrücks war Franz Trescher (1909 - 1980) in ZW Nr. 1-2/2019, S. 56 erschien dessen Gedicht „Österreichische Republiksfeier 1933“. Jahrbücher „Zwischenwelt“ und Philosophie Jahrbuch 15 der TKG, „Lebensspuren“, wird im Dezember 2019 erscheinen. Die Herausgeberinnen Irene Nawrocka und Marianne Windsperger legen die Ergebnisse der großen AutobiographikTagung vom November 2017 in Wien vor. Als Jahrbuch 16 sollen 2020 die Beiträge zum Symposium „Exil(e) und Widerstand“, das im Juni 2019 in Frankfurt an der Oder stattfand, dokumentiert werden. Für das Frühjahr 2021 plant die TKG eine Tagung über Philosohie im Exil — eine erste knappe Skizze zum Thema wird auf Wunsch zugeschickt.