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4 Gertrud Fleischmann an Hans Deichmann, 30.4.1984 Zit. In: Leben mit provisorischer Genehmigung: Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald. Eine Chronik von Hans Deichmann. Berlin 1988, 255. 5 Paul Stefan: Frau Doktor. Ein Bildnis aus dem unbekannten Wien. München 1922. 6 Vel. Alexander Emanuely: Avantgarde in Wien? Oder AvantgardistInnen ohne Avantgarde? Dissertation. Wien 2019, 61f ERINNERUNGEN Hilde Spiel Auf den obersten Etagen Hilde Spiel: Die hellen und die finsteren Zeiten Erinnerungen 19111946. München 1989, 53-70. Kapitel „Menschwerdung“ Im Frauenerwerbverein hatten wir, an jedem 12. November, die Volkshymne der Republik gesungen: „Deutsch-Österreich, du herrliches Land, wir lieben dich.“ Bei Eugenie Schwarzwald, in den von Adolf Loos entworfenen Räumen in der Wallnerstraße, sangen wir aus jedem Anlaß ein Lied, mit dem die „Fraudoktor“ ihren Schülerinnen Vertrauen in die Zukunft dieses neuen, armen Staates einflößen wollte: Grünet die Hoffnung, halb hab ich gewonnen,/ Blühet die Freude, so hab ich gesiegt,/ Ist mir mein Glücke nicht gänzlich zerronnen,/ wahrlich, so bin von Herzen vergniigt./ Kummer und Plagen/ will ich verjagen,/ wer mich wird fragen,/ dem will ich sagen:/ Grünet die Hoffnung — Und so fort. Es ist heute üblich, die Erste Republik als ein unseliges Gebilde zu betrachten, vom Beginn an zum Untergang verurteilt, bevor sie zu einem eigenen Selbstbewußtsein fand. Wir empfanden es anders, eine ganze Weile lang. Der Monarchie trauerten wir nicht nach, da die Erwachsenen es nicht taten. Daß wir ein Kaiserreich verloren hatten, störte uns nicht, denn wir meinten in jenen Zwanzigerjahren, Europa dafür eingetauscht zu haben, ja die ganze Welt. Indianer, Japaner und Eskimos/ Die Welt gehört uns allen und die Welt ist groß] Die Grenzen für die Alten,/ Wir lassen uns nicht halten,/ Wir gehn für Freiheit und Freundschaft los. Auch dies wurde in der Schwarzwaldschule gelehrt. Für uns fielen die Grenzen in den Liedern der Wandervögel, in der Sammlung des „Zupfgeigenhansl“ oder im Jugendrotkreuz, dessen bunte Monatshefte, oft mit fröhlichen Malereien des Jugendstilkünstlers Cizek geschmückt, uns mit Kindern aller möglichen Länder in Verbindung brachten. Die Schlimmsten Jahre schienen ja vorbei. Jung und frisch, keineswegs todgeweiht erschien uns jetzt dieses republikanische Österreich. Auch unsere Väter, die vor nicht allzu langer Zeit noch kaisertreu in den Krieg gezogen waren, hatten es inzwischen angenommen, hielten die noch andauernde Armut, die jüngstvergangene Inflation, die unveränderte Arbeitslosigkeit für Geburtswehen, hofften auf die Solidarität anderer demokratischer Länder, auf den Völkerbund in Genf, auf den Friedenswillen allerorten und die europäische Einigkeit. [...] Wir bewegten uns auf den obersten Etagen jenes Hauses in der Wallnerstraße, an dessen Vorderseite in der Herrengasse das Literatencaf€ Herrenhof lag, ziemlich lange noch in einem Klima der Reinheit, der Güte und Humanität, einem Klima der schönen Illusionen. Die „Frauendoktor“ einer der tatkräftigsten 36 ZWISCHENWELT 7 Eugenie Schwarzwald: Brief vom 17. Oktober 1938 aus Zürich an Pat Coates. Zit. In: Leben mit provisorischer Genehmigung: Leben, wie Anm. 4, 255 8 Genia Schwarzwald in Zürich. In: MdZ Nr 1/1997, 15f. 9 Alice Herdan-Zuckmayer: Genies sind im Lehrplan nicht vorgesehen. Frankfurt/M. 1979, 47. 10 Robert Scheu: Hermann und Genia. In: Arbeiter-Zeitung vom 8. Oktober 1947, 2. Menschen der Epoche, hatte die illusorische Seite ihrer Person und ihres Wirkens sicherlich von sich gewiesen und auf ihrer stets grünenden Hoffnung beharrt. Doch die Wahrheit war: sie durfte die Zeichen der Zeit nicht völlig wahrnehmen, sonst hätte sie ihr philanthropisches und pädagogisches Werk nicht zu leisten vermocht. Erst im Augenblick des Anschlusses an Deutschland mußte sie sich die Binde von den Augen reißen. 1939 schrieb sie aus Ascona an den Dichter Felix Braun in London, der ihre vergangenen Leistungen gerühmt hatte: Was ist das, wenn zehntausend Wiener, deren Kindern ich das Leben gerettet habe: Heil Hitler! Rufen, wenn Felix Braun: Evoe Genia! sagt. Es macht mir Mut zu neuer Arbeit. Nur in diesem Nebensatz verriet sie ihre Bitterkeit. Und starb, an Krebs und tödlicher Enttäuschung, im nächsten Jahr. 1895 hatte sie, die in Polupanowka an der russischen Grenze der Monarchie geboren und in Czernowitz aufgewachsen war, im Westen Germanistik studieren wollen. An der Universität der österreichischen Haupt- und Residenzstadt waren Frauen noch nicht zugelassen, darum ging sie nach Zürich und saß dort als einer von drei weiblichen Studenten im Hörsaal unter hundertfünfzig männlichen Geschlechts. Nach ihrer Promotion eröffnete sie in Wien ihr erstes Bildungsinstitut - „alles sollten da die Mädchen lernen, was die Männer wußten, und dabei lieb, beschneiden, mädchenhaft, hausfraulich bleiben“, wie sie es noch Jahrzehnte später, ohne es zu widerrufen, in einem Rückblick beschrieb. Gleich den meisten wahrhaft emanzipierten Frauen hatte sie wenig übrig für Feministinnen schriller Art. In einer einzigen ihrer Klassen saßen die späteren Frauen dreier berühmter Männer und selbst nicht ohne Ruhm: Helene Weigel-Brecht, Alice Herdan-Zuckmayer und Elisabeth Neumann-Viertel. Doch die fortschrittliche Schule allein genügte Genia Schwarzwald nicht. Im ersten Krieg rief sie eine Fülle von Wohlfahrtswerken ins Leben, eine Aktion „Kinder aufs Land“, Gemeinschaftsküchen, „Freundeshilfen“, „Greisenhilfe“. Ihre engsten Freunde, Sozialreformer wie sie, saffen in Skandinavien — Karin Michaelis, Elsa Bjoerkman, Anna Lene Elgstrom. Aber sie war in Verbindung mit Menschen guten Willens überall in der Welt. Die Fraudoktor erkannte auch geniale Künstler, bevor alle anderen es taten, rief Schönberg, Egon Wellesz, Adolf Loos und dessen Schützling Kokoschka als Lehrer in ihre Schule, sammelte in ihrer Stadtwohnung und sommers an verschiedenen Orten des Salzkammerguts bedeutende oder zumindest liebenswerte Menschen um sich. Ihren Schülerinnen, auch wenn sie wie ich nicht mehr von ihr selbst unterrichtet wurde, war sie trotz ihrer zuweilen penetranten Rührigkeiten ein Vorbild an Nächstenliebe