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und Mut. Was sie besaß, was sie sich erhielt angesichts der zunehmenden Verdunkelung der Lage, war in ihren Worten ein schwarzer Optimismus... mühsam aufgebaute Heiterkeit, wozu man selbst unter Tränen die Steine hat schleppen müssen; denn die Welt liefert kein Material dazu. In ihrer Schule beginnt denn meine Menschenwerdung, spinnen sich lebensbestimmende Freundschaften an. Aus Furcht, ich könnte allzu gelehrt versponnen, allzu schr ein Blaustrumpf werden, haben mich meine Eltern nicht ins Gymnasium, sondern in die gleichlaufende Frauen-Oberschule gesteckt. Dort lerne ich neben den Bildungsfächern und modernen Sprachen auch Kochen, Nähen und Kinderpflege. Und da ich in den letzten Jahren freiwillig Latein hinzunehme, reicht meine Matura für das Universitätsstudium aus. Vorerst aber bin ich mit zwei Mädchen befreundet, die meine verfrühte Geistigkeit nicht fördern, doch mir dafür helfen, mir meiner Physis bewußt zu werden, und dies auf ganz verschiedenen Art. [...] Noch bin ich in der siebten Klasse der weniger geachteten von den beiden Schwarzwaldchen Schulanstalten - manchmal diätkochend am Herd, manchmal Hüte oder Blusen nähend, manchmal auf dem Dachgarten die kleinen hütend nach Montessori-Art, indes die stolzen Gymnasiastinnen, den Ovid unterm Arm, uns mitleidig belächeln. Unser Unterricht in den Naturwissenschaften, in Mathematik und den Sprachen ist freilich, wie könnte es unter der Fraudoktor anders sein, nicht minder exzellent. Sie selber lehrt längst nicht mehr. Ihre Sprechstunde suche ich nicht auf, weil ich Scheu davor habe, mich ihr zu besonderer Kenntnis zu bringen. Völlig aufgehend in meinem privaten Bereich, der Liebelei, den Freunden und Freundinnen, dem Sport und Büchern, weiß ich von dem Wiener Salon des Ehepaares Schwarzwald, von seinem sommerlichen Gästehaus am Grundlsee nur am Rande. Dem Kreis ihrer bevorzugten „Kinder“ gehöre ich nicht an. Dennoch ist sie täglich unter uns, wenn auch nur, um am späten Vormittag in ihrem Direktorium Bittsteller aus allen Schichten zu empfangen, gleich der Marschallin bei ihrem Lever. Ein Zimmer in der Wallnerstraße ist zeitweilig von dem jungen Grafen Helmuth James von Moltke bewohnt, einem der vielen Menschen humaner Denkart in ihrer Umgebung. Einmal durchwandert sie, mitten im Unterricht, sämtliche Klassen, gefolgt von dem strahlend schönen Moltke, der ein Tablett mit Bonbongläsern hinter ihr herträgt und jede Schülerin mit einem Praline beschenkt. Das kleine Zwischenspiel wird von uns, aber auch von den Lehrern so empfunden, wie es ihre Absicht ist: als ein Zeichen, daß kein Vorgang zu ernst sein kann, um nicht durch einen Augenblick der Heiterkeit gewinnbringend unterbrochen zu werden. Der junge Deutsche macht gutwillig mit. Und doch zerreißt es jetzt das Herz, sich der harmlosen kleinen Szene zu erinnern. Denn Helmuth von Moltke, Haupt des Kreisauer Kreises, wurde im Januar 1945 hingerichtet, und nichts, nichts linderte diesen Tod und das vorhergegangene Jahr der Qual. Sie war eine erste Leitfigur, Genia Schwarzwald, selbst aus der Distanz. Mit all den kleinen Listen und Eitelkeiten, die auch den edelsten Wohltätern eigen sind. Kurz nachdem ich die Schule Carry Hauser: Eugenie Schwarzwald, Kohle auf Papier 1923. verlassen habe, bestellt sie mich zu sich, weil der Publizist und Redakteur der „Neuen Freien Presse“, Emil Kläger, eine Absolventin für ein spontanes Rundfunkgespräch über Jugendprobleme sucht. Meine Lehrer haben mich ihr empfohlen. Die Fraudoktor läßt mich ein, erkennt mich nicht und geht rasch in den Vorraum, um von ihrer treuen Assistentin meinen Namen zu erfahren. Dann kehrt sie zurück, umarmt mich sogleich und spricht mich an, als wäre sie seit je innig mit mir vertraut gewesen. Die Sendung findet statt und wird viel beachtet, weil Kläger niemandem verrät, wer sich hinter der „unbekannten Achtzehnjährigen“ verbirgt. Hilde Spiel (1911 — 1990) in Wien geboren. War Schülerin des Mädchenrealgymnasiums. Mit 17 publizierte sie erstmals, studierte nach ihrer Matura Philosophie an der Universität Wien und wurde Mitarbeiterin der „Neuen Freien Presse“. 1934 erhielt sie für ihren ersten Roman einen Julius-Reich-Preis. Als Sozialdemokratin dachte sie im selben Jahr daran, das Land zu verlassen. Sie heiratete den deutschen Schriftsteller und Flüchtling Peter de Mendelssohn und zog mit ihm 1936 nach London. Nach 1945 arbeitete sie für große europäische Zeitungen als Korrespondentin. 1963 kehrte Hilde Spiel nach Österreich zurück, wo sie 1990 starb. Zu Lebzeiten publizierte sie an die 30 Bücher und wurde vielfach ausgezeichnet — allerdings nie mit einem mit Preisgeld verbundenem österreichischen Literaturpreis— mit Ausnahme des Julius-Reich-Preises. Dergleichen sollte doch den ‚Einheimischen‘ vorbehalten bleiben. November 2019 37