OCR
Hans Deichmann Gegenstände Zitiert aus: H. Deichmann: Gegenstände. München 1996, S 6If, 72f., 175ff — In seinen Erinnerungen spricht Deichmann von sich in der dritten Person und apostrophiert sich als „AD“. HD und seine Frau, zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern und einer ihnen ans Herz gewachsenen Magd aus der Röhn verbrachten die Ferien — Urlaub nannte man das, wie unter den militärisch angehauchten Deutschen üblich, bei einem Angestellten der IG Farben - in der Schweiz bei ihren alten, noch rechtzeitig aus dem NS-Österreich entwichenen Freunden. Während sie dort waren, am 17.August, starb ganz unerwartet Hermann Schwarzwald. An gebrochenem Herzen: aus dem Land vertrieben, dem er in den wichtigsten Jahren seines Lebens mit großem Erfolg gedient hatte! — Ihr müsst nach Hause! In wenigen Tagen gibt es Krieg! Aber HD und seine Frau wollten Genia Schwarzwald, so lange es eben ging, beistehen und so zögerten sie mit ihrem Aufbruch bis zum 28.August. Nun musste man sich trennen fast gewiss, dass es wohl für immer sein würde (man vergesse nicht, dass die gewöhnlichsten Kontakte mit Juden im Ausland - schreiben oder telefonieren — lebensgefährdend sein konnten!). [...] Im Spätherbst des gleichen Jahres war Genia Schwarzwald der erste Hausgast von Dickie und HD (Es gab da einen engen Diwan in einem schlauchartigen Zimmerchen zum Hofe zu. Durch das man bei Feuergefahr die Hintertreppe erreichen sollte). Zur gleichen Zeit - sicher von den Beteiligten so geplant — war auch Rudolf Serkin, das älteste von Frau Doktors Kindern in Paris. Er war gekommen, um bei den Quäkern einen Klavierabend zugunsten der deutschen Emigranten zu geben. HD erinnert dies schr genau. Es fand in einem nicht schr großen und während Rudis Spielen sehr schwach beleuchteten Saal statt. Das Publikum bestand fast ausschließlich aus Entwurzelten, man hörte nur Deutsch, viele weinten, übermannt von Rührung und Dankbarkeit. Auch HD weinte, er fühlte sich zusammen mit den anderen vertrieben, vertrieben aus einer Welt, an deren Fortschritt er bis dahin geglaubt hatte. Nun war er hier mit zwei Freunden, die Deutschland schon nicht mehr betreten konnten. Man ahnte, noch viel Schlimmeres werde kommen, und dies werde erst nach Mitteleuropa in Scherben überwunden. Am Tag danach kam Rudi zu Frau Doktor zum Mittagessen in die Rue Villaret de Joyeuses, war begeistert von allem, als erstes natürlich von der tiefen Freundschaft und der Zusammengehörigkeit, welche die vier miteinander verband. Er eilte von einem Zimmerchen ins andere, bewunderte alles, schaute aus den Fenstern, ließ sich alles erklären und begleitete mit Gesten der größten Erheiterung HD’s Bericht vom Milchregen auf das Motorrad. Dabei stieß er gegen vier Teller, welche Dicki auf einen kleinen, immer sehr heißen Heizkörper gestellt hatte, um von warmen Tellern das erste von ihr bereitete Freundesmahl zu servieren. Die Teller zögerten keinen Augenblick und zerschellten in unzähligen Scherben am Boden. Rudi war untröstlich, alle anderen lachten nur und als HD ihm sagte: Halt ein! Sonst gehe ich in den Schrank und weine für dich, machte er ein ungläubiges Gesicht: Wieso Schrank? — Ja, es gibt einen großen Schrank gleich neben dem Eingang mit einer Tür wie die Zimmer, in den man 38 _ ZWISCHENWELT Hingehen... und weinen kann. Wenn ich Dicki etwas angetan habe, oder erst recht wenn umgekehrt, gehe ich in den Schrank und weine laut! HD machte es ihm vor und Rudi war wieder hell entzückt: Das will ich auch! Gesagt, verschwand er im Schrank, doch sein Weinen wurde erstickt im Lachen der anderen und, als er herauskam, stieß er auf sechs Arme, die ihn umarmten! (...) Die Lehrzeit erinnert HD als die stumpfeste und leerste Zeit seines Lebens. Ununterbrochen erörterte er mit sich selbst und mit seinen Freunden die Möglichkeit, doch noch in den Staatsdienst zu wechseln. Am 16.April 1932 schrieb ihm Genia Schwarzwald: ... aber in Deiner Berufsangelegenheit bin ich ein Feigling. Natürlich halte ich nicht viel von der IG Farben. Die hast Du mir ja ausgeredet. Aber ich weiß nicht, was ich vom Staat halten soll. Wie soll ich Dir raten, die Planke IG loszulassen im reißenden Strom dieser Zeit, wenn ich dafür nichts Anderes zu bieten weiß!? [...] Geheimrat Bosch kontrollierte nicht den Ölstand seines Motors, wohl aber HD, der dabei feststellte, dass der grüne Talbot in nur 500 km fast sein ganzes Öl konsumiert hatte; aber abwärts bis zur nächsten Tankstelle reichte es noch, und frohgemut taten die lockeren Kolben ihre Pflicht beim Überwinden von zwei weiteren Alpenpässen, dem Arlberg nach Innsbruck und der Pötschen nach Bad Aussee. Auf weitere Schwierigkeiten verzichtend gab Talbot seine Fracht in Grundlsee ab, und für die kommenden zwei Wochen stand er nicht mehr im Vordergrund... ausgenommen von einigen Besuchen bei Autoärzten. Unvergessen bleibt diese Ankunft! Als nunmehr zueinander Gehörende kehrten Dicki und HD zum ersten Mal zu ihrer Wiege zurück, in die ihnen so innigst vertraute Welt um die Freunde Genia und Hermann Schwarzwald. Dort waren sie jeder zu seiner Zeit (Dicki einige Jahre später als HD) und jeder auf eigene Weise hochgezogen worden; so waren beide bisher davon überzeugt gewesen, die Welt müsse so ausschen wie im Kreise ihrer Freunde, es gelte nur, sie in diesem Geiste weiter zu verbessern. Seit 1927 hatte HD hier seine Sommerferien verbracht: er kannte alle Menschen, alle Tiere, alle Steine und viele der treuen Sommergäste des Seeblicks, eines alten Hotels, das Genia Schwarzwald in ein Soemmerheim verwandt hatte für Erwachsene, die ihre Würde ablegen, und für junge Menschen, die spüren wollten, was die den Nächsten achtende Freiheit bedeutet. Die ersten Tage waren ausgefüllt mit Freuden des Wiederschens und dem Genießen der einmaligen Atmosphäre inmitten von Landschaft und Menschen, die bestrebt waren, zur Harmonie des Ganzen beizutragen. Aber es war doch schr anders als früher. Allen waren die düsteren Ereignisse der letzten zwei Monate gegenwärtig; das Morden in Deutschland, die Auflösung des österreichischen Parlaments durch den Austrofaschismus, der zwei Wochen danach die Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuss durch ein Nazi-Kommandb folgte (dafür sie die Nazis verjagten, musste man den Austrofaschisten sogar dankbar sein). Unter den Gästen des Seeblicks gab es nicht nur Emigranten, nein, bereits auch Entwichene. Fraudoktor — so wurde Genia Schwarzwald von allen genannt - erhielt täglich unzählige Briefe aus den verschiedensten Ländern, Nachrichten von materiell und seelisch Hilfsbedürftigen... und sie konnte nur wenigen helfen! HD machte dabei eine für ihn neue, harte Erfahrung. In den sieben