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Jahren seiner Zugehörigkeit zum Schwarzwaldschen Freundeskreis hatte er sich nie gefragt, wer Jude sei und wer nicht. Ihm waren nur voll integrierte Juden begegnet, und so existierten für ihn keine Unterscheidungsmerkmale. Nun, plötzlich, verlangte man von ihm, solche zu bemerken, auch wenn sie nur darin bestanden, dass die Juden ausgesondert wurden... er selbst aber nicht. seine jüngere Schwester Freya Helmuth James von Moltke — vel. die Erinnerungen Hilde Spiels. Deichmann war seit 1931 Manager bei 1.G. Farben. Als er 1942 bei seinen Besuchen des 1.G. FarbenWerkes in Auschwitz vom Massenmord an den Juden und Jüdinnen erfuhr, schloss er sich dem aktiven Widerstand an. 1942 arbeitete er in Norditalien für den Konzern und wurde ein wichtiger Informant der Resistenza. 1948 übersiedelte er, enttäuscht von der Entwicklung in Deutschland, nach Italien, wo er 1995 seine Memoiren „Gegenstände“ schrieb, welches 1996 den „Geschwister-Scholl-Preis“ erhielt. Er starb 2004 in Ameglia, Italien. Der 1907 in Köln geborene Jurist und Geschäftsmann Hans Deichmann hatte 1927 ein Semester in Wien studiert und in dieser Zeit Eugenie Schwarzwald kennen gelernt. Einige Jahre später heiratete „WIEDER LEBENDIG WERDEN LASSEN“ Am 31. März 1978 hat Hans Deichmann, der in Mailand lebte, den Freundinnen und Freunden Eugenie Schwarzwalds mitgeteilt, dass er seinen Sekretärs-Dienst in Sachen „Fraudoktor“ vorläufig beende. Die Bilanz sei durchaus positiv. Von 27 Personen, die er aufgefordert habe Erinnerungen zu schicken, seien von 22 Rückmeldungen eingetroffen. Das alles habe „so viel Schönes — und auch Trauriges — wieder lebendig werden lassen“. Die gesammelten Erinnerungen hat Hans Deichmann vervielfältigen lassen und allen, die mitgemacht haben, ein Exemplar zugeschickt. Die 22 Beiträge bildeten die Basis für das 1988 von Hans Deichmann herausgegebene Buch über Eugenie Schwarzwald: Leben mit provisorischer Genehmigung. Leben, Werk und Exil von Dr. Eugenie Schwarzwald (1872 — 1940). Eine Chronik von Hans Deichmann. Berlin 1988. Robert Streibel hat in seiner langjährigen Beschäftigung mit Eugenie Schwarzwald eine Sammlung dieser Erinnerungen überlassen beAxel von Ambesser Versuch über einen Versuch immer wieder den Versuch zu einer Novelle Diana und Stürmchen Ich wollte von einer Kinderliebe erzählen, von dem „privaten Weltereignis“ (wie Polgar es so wunderbar formuliert hat), das im Jahr 1930 zwei kleine Gäste des „Seeblicks“ überfiel. Diana war ein engelhaftes, fünfjähriges Geschöpf, die Tochter von Edgar und Lilian Mowrer. In sie hatte sich ein vierjähriger, dicklicher, kugelköpfiger blonder Klachs, der Sohn des höheren Beamtenehepaares Sturm, dem Frau Doktor der Einfachheit halber den Namen Stürmchen gegeben hatte, erschütternd verliebt. Man hätte beim Anblick des Elternpaares schwerlich vermuten können, dass ein Angehöriger dieser Familie durch ein Gefühl derart überwältigt und aus der Bahn geworfen werden könnte, wie es Stürmchen offenbar erfuhr. Er hatte nur Augen für Diana und in Dianens Augen, wirklichen Traumaugen, fand er die Welt wieder, wenn sie sich in ihr spiegelte. Am glücklichsten war er aber, wenn sein Kopf das ganze Spiegelbild ausfüllte. Ich hatte schon über ein halbes Schulheft über die beiden in meiner unleserlichen Schrift vollgeschrieben und diese Novelle wird wohl nie von mir beendet werden und nie von jemandem anderen zu entziffern sein. „Diana und Stürmchen“ wird also nie die Weltliteratur, auch nur armselig, bereichern. Schade, denn sie waren ein Aufmerksamkeit auf sich ziehendes Paar. Diana war fraglos ebenso schön, wie ihr Name. Aber Stürmchen war genau das, was Egon Friedell einige Jahre früher in Grundlsee als eine menschliche Kategorie erfunden und zu einem Begriff erhoben hatte, Stürmchen war ein perfektes Bruzzelkind. Wer von uns wüsste nicht mehr, was Bruzzelkinder sind? Bruzzelkinder sind Kinder, die so zum Kotzen lustig, heiter, sonnenwarm, trompetisch sind, dass man sie am besten in einen großen Topf mit siedendem Öl hineinwerfen sollte, auf dass sie verbruzzeln. Stiirmchen war, Frau Doktor konnte das nicht oft genug betonen, angesichts Stürmchens Voll Bruzzelkind-Natur das Kind besonders ehrenhafter liebenswerter Eltern, so dass Stürmchen also auf deren Konto auch in Grundlsee sein lautes Bruzzeldasein ausleben konnte. Stürmchen war aber vom lieben Gott in einem genialen Wurf (so weit es am Platze ist, Gott Genialität als „epitheton ornans“ anzudienen) zum Spießer erschaffen worden und dieser kleine Spiefer zerbrach an dem Tag, da er Dianen (da er — mit Platen zu sprechen — die Schénheit angeschaut mit Augen) lassen sollte, da ihre Eltern mit ihr nach England abreisen mussten. Er wurde still. Was in den Tagen vorher ein strahlender Boskop-Apfel gewesen war, wurde zu einem schrumpeligen Winterapfel mit Ohren und die Trompete klang klein und gebrochen. Warum habe ich die Tragödie nie geschrieben? — Wohl, weil ich nicht wusste, wie ich für einen, nicht mit „Seeblick“-Kenntnis belasteten Leser das alles schildern sollte, was mir heute noch unschilderbar erscheint: Der Blick von Frau Doktors Balkon hinunter auf die sonnige Terrasse, auf der Stürmchen angelegentlich herumlungerte und auf November 2019 39