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Bürokratismus fanden wir oft, dass sie ungerecht, leichtsinnig und unkontrolliert hergab. Aber zuletzt musste man sich stets vor der Richtigkeit des Resultats beugen. Wie alle Reformatoren neigte sie zu Ubertreibungen — Mafigkeit lag ihr überhaupt nicht —, aber sie wusste, dass die Durchschnittsnatur zu knauserig ist und zum Feilschen neigt, so dass man zu Ubertreibungen greifen muss, wenn tiberhaupt etwas übrig bleiben soll. „Es liegt etwas Unmoralisches im Begriff Philanthrophie, Wohltätigkeit, denkt daran!“ pflegte sie zu sagen. „Das ist eine Arbeit, die eigentlich gesetzlich verboten werden müsste! Steht ein junger arbeitsloser Mensch vor mir, dann habe ich, wir, die Gesellschaft Schuld. Er soll nicht Dankbarkeit für die Hilfe empfinden müssen — wir sind es, die um Entschuldigung bitten müssen dafür, dass es so verrückt in der Welt eingerichtet ist. Wenn dies unsere allgemeine Einstellung ist“, fuhr sie fort, als sie unsere verständnislosen Mienen sah, „so wird wenigstens das, was er bekommt, kein Almosen, sondern eine kameradschaftliche Hilfe. Die Schranktür, die offen steht, kann sich einmal rächen, aber hundert Mal lohnt sie sich. Das Wichtigste ist, die Menschenwürde der Leute zu wecken, zu zeigen, dass man dem Betreffenden glaubt und nicht meint, über ihm zu stehen.“ Was uns irritierte war, dass sie manchmal unnötige Sachen verschenkte, richtige „Luxusgegenstände“: aber auch in diesem Punkt mussten wir ihr Recht geben. Man hatte es mit einer ganzen Schicht von Menschen zu tun, die nie gewöhnt gewesen waren, etwas entgegenzunehmen. Wenn die Gabe auch noch so freundlich überreicht wurde, empfand man sie doch als schwer; aber gab's dazu ein „petit rien“, erwas „Unnötiges“, dann verschwand der schlimmste Notgeschmack. Und das Resultat sprach wieder einmal auf überwältigende Weise für „Fraudoktors“ Methode. Meine erste Begegnung mit Genia Schwarzwald fand am Weihnachtsmorgen 1919 statt. Unsere Hilfstätigkeit war schon im Gange, und „Frau Doktor“ hatte uns sagen lassen, dass sie gern mit uns zusammenarbeiten möchte. „Erst gleich nach Heiligabend kann ich kommen“, hatte ich ihr am Telefon gesagt. „Dann sagen wir also am ersten Weihnachtstag bei mir zu Hause“, sagte eine Stirne, die knapp, klar und konzis klang. „Sagen wir um zehn? Abgemacht. Josephstädterstrasse 68, Gartenhaus.“ Man macht sich oft eine Vorstellung von Menschen nach ihrer Stimme, und ich hatte ein dunkles Bild von etwas Feierlichem, Unpersönlichem und Prinzipienfestem — die sozial engagierte, berufstätige Frau. Als ich am Weihnachtsmorgen, etwas verspätet, eine ziemlich langweilige Geschäftsstraße in einem sogenannten Beamtenbezirk hinaufeilte. Bei Nummer 68 blieb ich keuchend stehen, möchte sie bloß nicht allzu schulmeisterlich pünktlich sein! Im Hof einer gewöhnlichen alten Mietskaserne fand ich ein kleines einstöckiges Haus im Pseudobarockstil, fast wie ein verschwiegenes Palais en miniature. Ich klingelte, die Haustür blieb jedoch zunächst hartnäckig verschlossen; schließlich wurde sie von einer recht schläfrigen Person mit unbestimmter Funktion geöffnet: „Ireten Sie nur näher“ und wies auf eine läuferbelegte Marmortreppe. „Die Tür links“, rief sie von unten, als sie sah, dass ich in der falschen Richtung ging. Aufeinem etwas größeren Vorplatz wartete ich eine Weile. Irgendetwas war falsch, fand ich, das ganze passte nicht zu meiner Vorstellung. Dann öffnete ich die Tür zum nächstliegenden Zimmer; dass ich mich nicht sofort erschreckt zuriickzog, lag an dem schwachen Licht — die Rollgardinen waren noch nicht hochgezogen —; langsam begann ich, Einzelheiten zu unterscheiden. Das Zimmer war, gelinde gesagt, noch nicht aufgeraumt. Auf dem Fußboden lag überall Papier herum; die Konturen eines Weihnachtsbaums zeichneten sich ab; überall standen Glaeser, Aschenbecher und geleerte Kaffeetassen, die Luft war unbeschreiblich. Nun hatte ich das unbehagliche Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein; erst als ich mich nach einem Stuhl oder einer Sofaecke umsah, wo ich mich hinsetzen könnte, entdeckte ich, dass an jedem denkbaren Platz Leute lagen und schliefen. Wo war ich gelandet? Ich musste an die falsche Adresse geraten sein... „Sind Sie Fräulein Björkman?“ Eine klare Stimme ertönte plötzlich wie ein Trompetensignal durch den Raum. „Hier war nämlich Weihnachtsabend, und daher ist der Platz etwas knapp. Steh auf, Walther, damit wir irgendwo sitzen können“, fuhr sie fort. „Und sag Mizzi, sie soll Kaffee aufsetzen. Hier, bitte!“ Eines von den Fenstern wurde nun weit aufgemacht. Da erst erblickte ich Frau Doktor, und ich muss wie ein lebendes Fragezeichen ausgesehen haben. Sie entsprach in keinster Weise dem Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte, darüber fühlte ich mich direkt irritiert. Ihr Körper war zu dick für die schmalen Beine und die kleinen Füße, ihr Gesicht zu glatt, rund und rotbäckig, während es doch von ihrer und der Not anderer hätte sprechen sollen - ihre Stimme zu hell und mädchenhaft für die grauen Haare. Walther war lautlos aufgestanden und verschwunden; das eine Sofa war jetzt frei. Möchte ich mich nicht setzen? Ich erstarrte. Wollte sie mir nicht wenigstens eine Erklärung geben oder um Entschuldigung bitten für diesen wunderlichen Empfang? Sie schien nicht einmal geniert zu sein. Das ging doch wirklich zu weit. Schließlich war ich Repräsentant eines Hilfswerks. Es handelte sich ja um ernste Dinge. Als wäre es die natürlichste Sache von der Welt, setzte sich Genia Schwarzwald auf den freien Platz neben mich und begann mitten zwischen all den Schlafenden von ihren Plänen zu sprechen. Ein paar von den Nachtgästen wachten nun auf, hier und dort rieb jemand sich schlaftrunken die Augen, drehte sich um und schlief wieder ein. Frau Doktor dagegen ließ sich keineswegs stören. Bald war ich im Bannkreis ihres Temperaments, ihrer klaren Gedanken und ihrer guten Ideen. Sie beschrieb die Schwierigkeiten, mit denen ihre Gemeinschaftsküchen bezüglich der Lebensmittelbeschaffung zu kämpfen hatten. Wie wäre es, wenn ein Teil unserer schwer zu verteilenden Waren ihren Küchen überlassen würde. ...] Ich rechne es zu meinen größten Erlebnissen meiner Wiener Jahre, dass ich zu dem Freundeskreis des Schwarzwaldschen Heims gehören durfte. Wenn ich an all die Menschen denke, die ich dort getroffen habe, so war es als ob man in Parkett — Kaminecke — nicht weniger als die ganze Welt vorgesetzt bekäme. Alles, was sich zu dieser Zeit bewegte, nicht nur an der Spitze, schien sie mit ihrem Zauberstab in ihre Höhle gelockt zu haben. Wie ich schon erwähnte, war Genia eigentlich zu dick für ihre dünnen Beine, aber sie trug ihre Korpulenz mit Selbstvertrauen und trippelte keck und sicher auf kleinen wohlgestalten Füssen in die neue Zeit ihrer Vorstellung. Ost und West hatten sich in ihr schöpferisch vereinigt, und Ost und West, Nord und Süd trafen sich im Haus der Schwarzwalds. Man glaubte Fraudoktor unbedingt, wenn sie übermütig proklamierte, dass jedes Land, das kleiner sei als die ganze Welt, zu klein sei um ihr Vaterland zu sein. In dem neuen kleinen Nachkriegsösterreich hörte man das damals nicht gern. Aber Genia gehörte nicht zu denen, die sich still und vorsichtig durch den Dschungel des Lebens schlichen oder gar schlängelten, alles November 2019 43