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Brigitte Rath Die am 11. Dezember 1876 in Wien in die jüdische Textilhändlerfamilie Popper geborene Olga verbrachte ihre Jugend in England und heiratete 1899 — sie war inzwischen zum evangelischen Glauben übergetreten — den promovierten Physiker, Astronomen und Mittelschulprofessor Wladimir Misaf, später Sekretär der Freimaurer-Großloge von Wien. Frauen konnten nicht Freimaurer werden, jedoch war weiblichen Verwandten der Zugang zu Veranstaltungen erlaubt. Daher konnte Olga Misaf neben vielen anderen auch den Friedensaktivist Alfred Hermann Fried kennenlernen und mit ihm Ideen der Friedensbewegung, wie ihre Mitarbeit in der Zeitschrift „Friedens-Warte“ sowie der Nachruf auf ihn 1921 zeigen. ' Olga Misaf war eine wichtige Akteurin der Frauen- und Stimmrechtsbewegung, der Friedensbewegung, der Kriegsdienstgegner und als Journalistin eine aufmerksame und kritische Analystin nicht nur, aber vor allem der österreichischen Politik. Sie selbst bezeichnete sich 1916 als „Writer, Speaker, Organiser.“ Das Ehepaar Misaf bekam 1900 die Zwillinge Vera und Olga, die die Unterstufe des Gymnasiums in der Schule von Eugenie Schwarzwald absolvierten.” Später studierten beide Biologie und gehörten damit zur ersten Generation studierender Frauen an der Universitat Wien.’ Ab 1908 ist Olga Misaf als Rednerin und Referentin zu diversen Themen der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung nachzuweisen. 1911 bis 1912 war sie als verantwortliche Redakteurin des Vereinsorgans „Mitteilungen des Österreichischen Bundes für Mutterschutz“ tätig, der sich vorrangig für uncheliche Mütter einsetzte. Daraus erwuchs das Engagement in der Stimmrechtsbewegung, für die sie auch von der Tagung des Weltbundes für Frauenstimmrecht im Juni 1913 in Budapest berichtete und ihre „Landsmänninen“ aufforderte, sich der Stimmrechtsbewegung anzuschließen, um Einfluss auf jene Gesetze zu erhalten, denen sie Folge leisten müssen.* Nachdem die Frauen im November 1918 das aktive und passive Wahlrecht erhielten, kandidierte Misar in einer der zahlreichen neu gebildeten bürgerlich-liberalen Parteien, der „Demokratischen Mittelstandspartei“, die der Multifunktionär, Journalist, Politiker und Schriftsteller Ernst Viktor Zenker? gründete. Die Partei erhielt jedoch nicht genügend Stimmen, um in den Nationalrat einziehen zu können. Mit Zenker lebte Misaf einige Zeit zusammen und überschritt damit auch Grenzen der bürgerlichen Moral, die für Frauen wesentlich rigider als für Männer formuliert wurden. Seit Beginn des Ersten Weltkrieges lässt sich verstärktes Engagement Olga Misafs in der Frauenfriedensbewegung feststellen. So war sie eine der Teilnehmerinnen an der internationalen Frauenfriedenskonferenz in Den Haag im April 1915 und engagierte sich auch weiterhin in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF), sowohl auf regionaler als auch auf internationaler Ebene.‘ Bei der 3. Internationalen Tagung der IFFF in Wien im Juli 1921 veröffentlichte sie den „Schwur gegen jede Kriegsarbeit“. 1925 wurde ihr angeboten, als internationale Sekretärin in Genf für die Organisation tätig zu sein, was sie jedoch ablehnte. Zu dieser Zeit war sie bereits in leitender Funktion für den Bund der Kriegsdienstgegner (BKG) in Österreich und auch im Exekutivkomitee der War Resisters International (WRI) tätig. Sie trat häufig als Referentin sowohl in Wien als auch in den Bundesländern und hier vor allem in der Steiermark auf, sprach bei großen „Nie wieder Krieg“ Demonstrationen in Wien, gab eine eigene Zeitschrift des BKG heraus und organisierte im Juli 1928 die 2. Internationale Konferenz der Kriegsdienstgegner auf dem Sonntagberg in Niederösterreich, bei der viele internationale FriedensaktivistInnen referierten. Mit ihrer Übersetzung der 1921 erschienenen Publikation „Conscription and Conscience“ des Quäkerseelsorgers John William Graham, die 1926 mit dem Titel „Friedenshelden im Weltkrieg. Die Geschichte des Kampfes gegen die allgemeine Wehrpflicht in England von 1916-1919“ im Quäker-Verlag in Berlin-Biesdorf veröffentlicht wurde, verbreitete sie die historische Aufarbeitung dieser Bewegung im deutschen Sprachraum. Gemeinsam mit Martha Steinitz und Helene Stöcker verfasste sie 1923 eine kurze Geschichte der Kriegsdienstgegner in Deutschland und Österreich.” Der Wiener Jurist und Judaist Franz Kobler gab 1928 „Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus“ heraus. Darin versammelte er auf beinahe 400 Seiten Texte von 43 international bekannten AktivistInnen der Gewaltlosigkeit aus elf Ländern, unter ihnen auch Olga Misar mit dem Beitrag „Die Aufgabe der Frauen“, in dem sie kritisierte, dass sich nur wenige Frauen, die im politischen Feld eine Rolle spielten, für Pazifismus engagierten. Als positive Beispiele nannte sie die Kanadierin Agnes MacPhail® und die Ungarin Anna Kethly’. Dabei kamen ihr Kontakte zur Frauenfriedensbewegung zugute, denn beide waren in der IFFF tätig und Misaf kannte sie aus diesem Zusammenhang. Wie schwierig es war, in einer Situation ständig steigender physischer Gewalt einen Diskurs über Frieden und Kriegsdienstgegnerschaft zu führen, lässt sich immer wieder feststellen. Bei einer Versammlung im Jahr 1926 äußerte sie über die Arbeit der Kriegsdienstgegner Folgendes: Wir müssen furchtlos gegen den Strom schwimmen, uns nicht durch Schmähungen oder Hohn beirren lassen. Wer gegen den Strom zu schwimmen wagt ist eine Kraft und wirkt als solche; wer mit dem Strom schwimmt, wird von ihm mitgeführt und wirkt überhaupt nicht als selbstständige Kraft, wird vom Strom verschlungen." Als Journalistin publizierte Olga Misaf in einer Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften, sowohl der Frauenbewegungspresse als auch in linksorientierten Blättern. Es handelte sich um „Neues Frauenleben“, „Der Morgen“, „Zeitschrift für Frauenstimmrecht“, „Friedens-Warte“, „Das Monistische Jahrhundert. Wochenschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung“, „Der Zirkel“, „Der Abend“, „Erkenntnis und Befreiung. Organ des herrschaftslosen Sozialismus“, „Hertha. Tidskrift för den svenska kvinnorörelsen“ (Zeitschrift für schwedische Frauenangelegenheiten), „Die Frau im Staat“, „Neues Wiener Tagblatt“, „Bereitschaft. Zeitschrift für Menschenökonomie, Wohlfahrtspflege u. soziale Technik“, „Der Kriegsdienstgegner. Organ des Bundes der Kriegsdienstgegner Österreichs“, „Pax International“, „Die Friedensfront. Organ des Bundes der Kriegsdienstgegner. Deutscher Zweig“. Diese Auflistung zeigt nicht nur die politische Breite, sondern dokumentiert auch die vielfältigen internationalen Kontakte, über die sie verfügte. Die Themen ihrer Artikel waren ebenso breit November 2019 63