OCR
Dazu kommt die Hilflosigkeit und die Ungewissheit, ob es nicht einfach zu spät sein wird. Ein Satz hat mir immer das Leben gereitet, ein Satz des Geschichtsprofessors Dr. Flusser aus der Schwarzwaldschule von Frau Dr. Eugenie Schwarzwald. In der Geschichte ist es wie in einem Menschenleben, einmal oben und dann unten und wenn man ganz unten ist, dann gibt es nur mehr die Möglichkeit des Oben. Ein einfacher Satz, aber als die Gestapo die Wohnung durchsucht hat, als die Mutter geschlagen und zum Ziegelschupfen geholt wurde vom 16jähren Sohn des Hausmeisters, als ich von einem Moment zum anderen erwachsen wurde, da habe ich gewufst: Jetzt bin ich ganz unten und das hat mir geholfen und mir auch ein bisschen Hoffnung gegeben. Frau Sherman ist quirlig, wenn sie sitzt oder mit der Gehhilfe unterwegs ist, merkt man dass ihre Gedanken noch springen und bloß ihre Beine nicht mehr so recht mitmachen wollen. Sie hat die Vorstellung und den Traum noch nicht aufgegeben, doch noch Hermann Schwarzwald An Marcel Ray nach Venedig Lido Ha, welche Fülle der Gesichte Marcel mir vor das Auge riefl Er hat die ganze Kunstgeschichte vergessen, zeigt sein letzter Brief. Suzanna lässet er im Bade, als wäre solches nie gemalt, Suzanne badet am Gestade, wo alles badet, jung und alt! O Freund, den es nach Frankreich lüstet und nach dem herrlichen Paris, bist du für alles auch gerüstet und jeder Zukunft auch gewiß? Susanne bleibt allein im Bade, wo sie am Wellenspiel sich letzt, Susanne badet, wo gerade sich jung und alt am Bad ergötzt! Vergißt du, was der Künstler weise sich oft zum Vorwurf hat gewählt, woran die Neugier jener Greise sich teils vergnügt und teils sich quält? Susanne steiget aus dem Bade, des Gatten fernem Aug entrückt, Suzanne zeigt die schöne Wade — wer weiß, wen sie damit entzückt! Hermann Schwarzwald: An Marcel Ray nach Venedig Lido. In: Dr. Hermann Schwarzwald: Gedichte 1913 bis 1920. Wien 1924, S. 12. Der privat vervielfältigte Lyrikband umfasst 78 Seiten und enthält Gedichte an u.a. Sophie Reiss, Paul Kammerer, Villa Berl, Marcel Ray, Erika Prym, Egon Wellesz, Karl Blau, Frank Oppenheimer, Karin Michaelis, Jakob Wassermann, Adolf Drucker, Adolf Loos, Lydia Timper, Oskar Kokoschka, Wastl Isepp. 66 _ZWISCHENWELT ein Buch zu schreiben über ihre Familie und deren Geschichte, so vieler gelte es sich zu erinnern, wenn sie es nicht tut, wer sollte es dann noch tun. Die Erinnerung schmerzt und es ist kein Wunder, dass sie bislang nicht darüber sprechen konnte. Die Eltern haben mit einem kleinen Delikatessengeschäft angefangen und sie mit einer Druckerei mit ein paar hebräischen und englischen Schreibmaschinen. Ruth Sherman hatte zwei Bilder und jetzt lebt sie mit ihren Antiquitäten und ihren vielen Stühlen. Bei einem Festessen in einer jüdischen Familie wird immer ein Teller mehr aufgedeckt, falls der Prophet unangekündigt kommt. Ruth Sherman wartet nicht auf den Propheten Elija, sie hofft aber, dass sie eine finanzielle Entschädigung für das geraubte Vermögen, das Geschäft und die Wohnung bekommt. „Ich bin 82 Jahre, vielleicht in zwei Jahren habe ich eine Chance heißt es, doch jetzt würde ich Hilfe gebrauchen.“