OCR
Alexander Emanuely Wer war Marcel Ray? Die Rettung der Krone In der Ausgabe vom 31. Dezember 1923 des „Le Petit Journal“, einer der auflagenstärksten Zeitungen Frankreichs, findet man als ersten Beitrag auf der Titelseite einen ausführlichen und langen Artikel über Österreich. Es ging um die Rolle des Bundeskanzlers Ignaz Seipel bei der Rettung der Krone, also um seinen Versuch, die österreichische Währung in Zeiten der Hyperinflation zu stabilisieren. Ausführlich wird beschrieben, wie der „docteur Seipel“ die Regierungschefs der Nachbarstaaten besuchte, um diesen vorzuschlagen, das krisengeschüttelte und scheinbar überlebensunfähige Österreich zuerst an Italien, dann an die Tschechoslowakei, schließlich an Deutschland anzuschließen. Wie der Autor des Artikels feststellte, dürfte Bundeskanzler Seipel weit davon entfernt gewesen sein, irgendeine dieser Anschluss-Ideen ernsthaft zu verfolgen, doch beunruhigen wollte er die Nachbarn, auf dass rasch internationale Hilfe für die junge Republik erfolge. Ab der Hälfte des Berichts geht es jedoch nicht mehr um den Bundeskanzler, sondern ausschließlich um einen anderen „docteur“, um jenen hohen Beamten des Finanzministeriums, der tatsächlich die Krone gerettet hat: Ce qu'on connait de moins, cest Vactivite presque silencieuse, mais decisive du docteur Hermann Schwarzwald, qui fut a Vienne le réalisateur technique de la réforme financiere de l’Autriche.' Es werden die volkswirtschaftlichen und monetären Maßnahmen Hermann Schwarzwalds gelobt, die dem Autor des Artikels zufolge auch andernorts zur Bewältigung der regionalen Wirtschaftskrisen übernommen werden sollten. Man erfährt, dass Hermann Schwarzwald noch kurz vor dem Weltkrieg in einer französischen Zeitschrift vor einem militärischen Konflikt gewarnt und Partei für den Frieden ergriffen habe. Dass ein französischer Journalist mit so viel Hintergrundwissen über einen österreichischen Beamten schreiben konnte, zeigt nicht nur, dass er sich mit den Wiener Verhältnissen ausgekannt haben muss, sondern auch mehr über den Beamten gewusst haben dürfte. Tatsächlich waren beide seit einem guten Jahrzehnt befreundet, und der Verfasser des Artikels war mehr als nur ein Journalist und hieß Marcel Ray. Grand-Tour Marcel Ray wurde 1878 in Saint-Léon in der Auvergne geboren, sein Vater war in Vichy Direktor der Jungenschule „Carnot“. Mit 19 wurde Marcel Ray Student der Germanistik an der renommierten Pariser „Ecole Normale Superieure“, rue d’Ulm. 1904 absolvierte er als Zweitbester seines Jahrgangs mit einer Arbeit über Detlev von Liliencron. Um sich sein Studium in Paris zu finanzieren hatte ihm schon 1899 sein Vater einen seiner Schüler der Carnot-Schule vermittelt, Valery Larbaud, Sohn des früh verstorbenen Inhabers der Mineralwasserproduktion „Larbaud St-Yorre“ und Millionärs Nicolas Larbaud. Es galt den um drei Jahre jüngeren Schüler als Tutor auf eine Art Grand-Tour in die Benelux-Länder und nach Deutschland zu begleiten. Larbaud und Ray sollte daraufhin eine lebenslange Freundschaft verbinden. In der Folge reiste Marcel Ray öfters nach Deutschland, wo er als Privatlehrer in Dresden arbeitete oder Valery Larbaud begleitete. In den ersten Jahren nach seinem Studium reiste er viel, unterrichtete an Schulen, hatte Privatschüler in Deutschland und war Assistent des bedeutenden Pariser Germanisten Henri Lichtenberger.” Er nahm weiters Kontakt zu bekannten Schriftstellern, so zu Richard Dehmel? oder Arthur Schnitzler auf, dem er anbot „Bertha Garlan“ zu übersetzen.‘ Nach diesen ersten Reisen ließ sich Marcel Ray in Montpellier nieder, wo er neben seiner beginnenden publizistischen Tätigkeit Professor für deutsche Sprache und Literatur an einem Lycée und bald schon an der Universitat der Stadt wurde. 1908 heiratete er Suzanne Eymar, die Tochter eines Kaffeesieders und Schwester des Malers Louis Charles Eymar’, der ebenfalls mit Larbaud befreundet war‘. Valery Larbaud war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein berühmter, viel gelesener Autor, zu dessen Fans Rainer Maria Rilke, Stefan Zweig und Thomas Mann zählten. Er übersetzte auch viel, vorwiegend aus dem Englischen. So machte er das französische Publikum mit dem Werk seines Freundes James Joyce bekannt und übertrug 1924 gemeinsam mit zwei Kollegen Teile des „Ulysses“ ins Französische. Zwei Jahre zuvor hatte sich übrigens Marcel Ray dafür eingesetzt, dass James Joyces Drama „Les Exiles“ (Die Verbannten) im Pariser „Iheätre de ’Ode&on“ aufgeführt wird. Dieses Projekt scheiterte jedoch, da Marcel Ray das Stück schlussendlich nicht übersetzte.’ Larbauds Übersetzungen landeten schließlich bei der Verlegerin Adrienne Monnier, die alles daran setzte, James Joyce berühmt zu machen. Die Verlegerin hatte auf das Pariser Geistesleben einen zumindest ebenso bedeutenden Einfluss, wie Eugenie Schwarzwald auf das Wiener. Ich weiß nicht, ob sich die beiden Frauen je getroffen haben, doch voneinander gehört haben sie sicher. Auch veröffentlichte Eugenie Schwarzwalds Nichte, die bedeutende Übersetzerin und Schwarzwaldschule-Lehrerin Anna Nußbaum am 25. Juli 1926 in „Der Tag“ ein ausführliches Porträt Adrienne Monniers und berichtete von deren Buchhandlung in der rue de l’Od£&on, ihrem Verein zur Förderung der Literatur und ihrer von Valery Larbaud geleiteten Zeitschrift „Le Navire d’argent“, die Vorbild für Ernst Schönwieses „das Silberboot“ wurde. 1909 gehörte Valery Larbaud mit André Gide und einigen anderen zu den Gründern der Zeitschrift „Nouvelle revue fransaise“ (N.R.F.). In der N.R.F. publizierte auch Marcel Ray, so im Februar 1910 und im August 1911 Beiträge über den 1909 jung verstorbenen Schriftsteller Charles-Louis Philippe, der für seine sozialkritischen Erzählungen bekannt war. Dieser war nicht nur ein weiterer Mitbegründer der N.R.E, sondern auch ein Kindheitsfreund Marcel Rays. 1911 wird sich die Zeitschrift einen eigenen Buchverlag zulegen, welcher sich bald Gallimard-Verlag nennen wird, nach dem Buchhändler und Geschäftsführer der N.R.E Gaston Gallimard. 1913 hatte Valery Larbaud seine beiden bekanntesten Romane „Fermina Marquez“ und ,,A.O. Barnabooth“ bei Gallimard veröffentlicht und Marcel Ray für die avantgardistische Zeitschrift „La Phalange“ Carl Einsteins Pantomime „Nouronibar“ übersetzt November 2019 6/