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Diktatur sprach.” Doch Tardieu hielt sich nicht und Edouard Herriot löste ihn, gestützt von einer knappen linken Mehrheit im Parlament, am 3. Juni 1932 als Regierungschef ab. Der Diplomat »LEurope nouvelle“ war eine Zeitschrift, deren Vorbild der „Economist“ war, nur, dass die LeserInnen handverlesen waren, meist PolitikerInnen und sonstige wichtige Leute aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Marcel Ray war Vorstandsmitglied der die Zeitschrift herausgebenden Organisation „L’Europe Nouvelle“, welche in der Zwischenkriegszeit die Politik Aristide Briands für eine europäische Gemeinschaft unterstützte”, vergleichbar mit der Paneuropa-Bewegung Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergis‘, zu der es enge Beziehungen gab. Marcel Ray war selbst auch Mitglied der Paneuropa-Bewegung, deren aktiver Mitstreiter er war.” Ein Unterstützer und Förderer von „L’Europe Nouvelle“ und der Paneuropa-Bewegung war neben Aristide Briand selbst Edouard Herriot, der von zentraler Bedeutung für Marcel Rays weitere Karriere im französischen Staatsdienst war. Als Herriot im Sommer 1932 Regierungschef und Außenminister wurde, holte er den nach der „Säuberung“ der Presselandschaft arbeitslosen Marcel Ray, der dank seiner Tätigkeiten das diplomatische Parkett schr gut kannte, als Vorsitzenden in sein Kabinett im Außenministerium. Edouard Herriot war für eine friedliche Einigung der demokratischen Staaten Europas und sah in der Nachkriegsordnung alles andere als eine Garantie für einen bleibenden Frieden. Der linke Republikaner Edouard Herriot sollte nach dem März 1938 einer der einflussreichsten Unterstützer und Fürsprecher der Flüchtlinge aus Österreich werden. Diese Nähe zu Österreich ist teilweise seinem Mitarbeiter Marcel Ray, aber auch seiner Nichte Ninon Tallon (Herriot) zu verdanken. Diese war mit dem Wiener Architekten und Direktor der „Kunstgewerbeschule des österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, heute „Universität für angewandte Kunst“, Eugen Steinhof, einem Freund Arnold Schönbergs, verheiratet.“ Nach dieser ersten Arbeit, bei der Marcel Ray Mitglied fast aller Delegationen Herriots war, wurde er, nach Herriots Rücktritt im Dezember 1932, Diplomat und nebenbei Kommandant der Ehrenlegion. Zwischen 1932 und 1934 war Marcel Ray der Delegierte Frankreichs in der „Commission europ&enne du Danube“, welche die Schifffahrt auf der Donau regulierte. In diesen Jahren kam er in seiner Funktion öfters nach Wien, wobei er im „Grand Hotel“ abstieg*! und wohl auch einen Sprung in die Josefstadterstraßße machte. 1935 wurde Marcel Ray Botschafter in Tirana und 1937 in Bangkok. Eines der Hauptthemen von Marcel Ray in „Le Petit Journal“ oder „L’Europe nouvelle“ war immer wieder Österreich und seine Zukunft. Im März 1944, als er Leitartikel in Algier, der Hauptstadt des freien Frankreichs, für die Zeitung der Resistance „Combat“ schrieb, zerbrach er sich nach wie vor den Kopf über Österreich. *? Dabei erwähnte er, dass er schon 1919 dafür plädiert hatte, dass Wien Sitz des Völkerbundes werde.“ Dahinter steckte die Überlegung, mit diesem symbolischen Akt die Millionenstadt der jungen, sehr kleinen mitteleuropäischen Republik aufzuwerten, dieser für das Land doch zu großen Hauptstadt eine zusätzliche, internationale Bedeutung und Funktion zu geben. Die Diskussion 70 ZWISCHENWELT zur Welthauptstadt Wien wurde noch bis in die 1930er-Jahre geführt, wie man in Karl Kraus‘ Fackel 1931 nachlesen kann: Zu dem Problem, ob Wien als Sitz des Völkerbundes in Betracht komme — tausend Grüfser stehn bereit und hinter ihnen zehntausend Kellner mit Hangerl und Bangerl — wird in Paris „kein offizieller Standpunkt“ eingenommen [...]. Außerdem, aber schon ganz privat, verwies ein französischer Politiker auf unsere günstige geographische Lage, die neuestens vielfach erörtert wird und eigentlich von Schober entdeckt wurde |... * In „EEurope nouvelle“ wird Marcel Ray übrigens nicht nur für Wien als Welthauptstadt werben, sondern auch für Karl Kraus, über den er einen ausführlichen Beitrag schrieb, als Kraus 1925 Paris besuchte.“ Die Wohltäter der Menschheit Marcel Ray stand Karl Kraus 1934 auch mit Rat und Tat zur Seite, als dieser sich überlegt hatte, Österreich nach dem Bürgerkrieg zu verlassen.“ Für Marcel Ray war Karl Kraus der bedeutendste deutschsprachige Autor, er sah in ihm schon seit langem einen Literaturnobelpreisträger. So regte er sich 1929 in Artikeln darüber auf, dass Thomas Mann und nicht Karl Kraus in Stockholm ausgezeichnet wurde.” Noch Jahre nach Kraus‘ Tod hob Marcel Ray dessen Bedeutung für die europäische Geisteswelt hervor. So im November 1943 in der ersten Ausgabe der in Algier erschienenen Zeitschrift „Cahiers antiracistes“, in der er einen neun Seiten (von 64) langen Beitrag über Karl Kraus veröffentlichte. Auf den restlichen 55 Seiten der von Ministern und Mitarbeitern der Internationalen Liga gegen Rassismus (LICA) herausgegebenen Zeitschrift ging es vor allem um die Bekämpfung des nazistischen Rassismus nach der Befreiung, um den Wiederaufbau antirassistischer Vereine in Frankreich und vor allem um die eben langsam bekannt werdenden Massenmorde der Nazi an Juden und Jüdinnen. Der Untertitel „Visionnaire et Justicier“ (Visionär und Richter) verrät, wie Marcel Ray Karl Kraus sah“*, bzw. wie er wollte, dass er von den FranzösInnen, EuropäerInnen gesehen wurde. Dreizehn Jahre zuvor hatte Marcel Ray zu jenen gehört, die den Innenarchitekten der Schwarzwaldschule Adolf Loos darin unterstützt haben, in Paris eine eigene Architektur-Schule, eine AdolfLoos-Schule, zu gründen. Am 10. Dezember 1930 feierte Adolf Loos seinen 60. Geburtstag in Prag. In Wien war er inzwischen wegen „Verführung zur Unzucht“ von drei Mädchen im Alter von etwa neun Jahren verurteilt worden, weshalb er auch keine Aufträge seitens der Gemeinde Wien mehr erhielt.“ In Prag hielten seine Freunde einige Geschenke für ihn bereit. Eines der Geschenke war ein Aufruf prominenter Intellektueller, der die Gründung der Pariser Schule unterstützte. Marcel Ray hatte den Aufruf, der am 4. Dezember 1930 im „Prager Tagblatt“ veröffentlicht wurde, initiiert. Unterzeichnet wurde er von Arnold Schönberg, Karl Kraus, Heinrich Mann, Valery Larbaud und James Joyce.°° Der Direktor Marcel Ray hielt sich 1940 in Aix-en-Provence auf und musste sich vor der Gestapo verstecken, die auf ihn wohl deshalb aufmerksam geworden war, weil er das Vorwort zu der im Dezember 1939 erschienenen französischen Ausgabe von Hermann Rauschnings „Gesprächen mit Hitler“ verfasst und damit eine eindeutig