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DOKUMENTE Karin Michaélis Frau Doktor empfängt Es ist noch nicht einmal elf Uhr, doch die ersten Leute kommen schon. Man sollte fast meinen, der lange Korridor vor dem Zimmer der Schuldirektorin sei das Vorzimmer eines Modearztes. Als Louise mit roten Wangen und strahlenden Augen — sie kommt gerade aus einer der Klassen mit den jüngsten Schülerinnen und Schülern - vorbeieilt, wird sie nicht nur von ihnen, die just zu diesem Zeitpunkt Pause haben, sondern auch von all den fremden Menschen, von denen jeder glaubt, gerade sein Anliegen sei das wichtigste, umringt. Willys Vater kommt als erster ins Zimmer. Er ist höflich und formell. Er verbeugt sich tief und bedauert, dass er Frau Doktor Minuten ihrer kostbaren Zeit stehlen wird, doch es ist notwendig. Willy will nämlich nicht essen. Willy ist so jung, dass man ihn nur schwerlich mit einem Hungerstreik in Verbindung bringen kann. Er ist dünn wie ein Streichholz, und das wenige Essen, das man in ihn hineinpraktiziert und ihm unter Drohungen einflößt, nimmt er im Stehen ein, um nicht zu dick zu werden! Droht man ihm damit, dass man sich bei Frau Doktor beschweren will, sagt er vertrauensvoll: — Mach nur, Frau Doktor ist derselben Meinung wie ich. Aber er rückt nicht mit seiner Meinung heraus. Erklärt nur, dass er seine Gründe habe. Willy wird geholt. Und nun lösen sich die Stimmbänder. Seine blauen Augen auf Louise gerichtet, sagt er: — Ich will nicht essen, weil ich nicht dick sein möchte! Sie haben selbst gesagt, dass wir bald einen neuen großen Dichter brauchen und der möchte ich sein. Doch in alten Zeiten haben alle Dichter gehungert, und deshalb will auch ich hungern. Aber falls ich nicht Dichter werde, möchte ich Bankdirektor sein, doch dann muss ich auch dünn sein, um gut rechnen zu können! Louise hört aufmerksam zu und nickt verständnisvoll. Sie gibt ihm vollkommen recht. Aber nun stellt sie den Speisezettel zusammen, der sich gleichzeitig für zukünftige große Dichter und Bankdirektoren eignet! Haferbrei ist ausgezeichnet, wenn man dichtet; er hilft bei der Suche nach dem passenden Reim. Apfelkompott bringt enorm viel Phantasie hervor. Spinat ist besonders gut für jene, die vielleicht eine Weihnachtskomödie schreiben wollen. Und zwei, ja sogar drei Eier pro Tag sind das allerbeste Mittel, um ein großer Rechenkünstler zu werden. Willy hört zu, verspricht und versteht. Nun weiß Louise, dass Willy essen wird, bis er so dick wird wie eine Tonne, wenn man nicht Stopp zu ihm sagt. Eine Sechzehnjährige tritt ein. Sie ist schr ernst, kommt als Abgesandte der „Schul-Bank“ um zu fragen, ob Frau Doktor nicht meint, dass man die Regeln für einen Tag ruhen lassen könnte, um das Geld für etwas Außergewöhnliches zu verwenden. Auf Umwegen hat man erfahren, dass die Eltern von Edith Bracht heute auf die Straße gesetzt werden sollen, weil sie ihre Hausmiete nicht bezahlt haben. Die Sache ist schnell erledigt, und das Mädchen entfernt sich erleichtert und froh. — Was ist die „Schul-Bank“?, frage ich und erfahre, dass sie eine Art Sparkasse ist, die die Schüler und Schülerinnen selbst verwalten. Jedes Kind zahlt eine unbedeutende Summe pro Monat ein, 78 ZWISCHENWELT wohingegen es früheren Schülerinnen und Schülern erlaubt ist, größere Beiträge zu leisten, wenn sie diese nachweislich selbst verdient haben. Von dem Geld wird Taschengeld an arme Kameraden ausgezahlt, und auch Sommerreisen für überarbeitete Schülerinnen und Schüler, Spielzeug für kranke Kinder, ja mitunter Bücher und Kleider für Kinder, die große Not leiden, werden davon bezahlt. Der Zusammenhalt ist so stark, dass ein Kind ohne Verlegenheit kommen und sagen kann: — Ich möchte gerne Geld haben, um einmal im Monat die Oper zu besuchen. Papa hat dieses Jahr kein Geld dafür, und ich vermisse es so! Oder: — Könnte ich nicht 30 Kronen pro Monat bekommen für Kleider und Taschengeld, bis ich selbst unterrichte? Man spendet den Schülerinnen und Schülern zuerst das Geld und hilft ihnen dann, Nachhilfeschüler zu finden. Sobald ein Kind genügend Nachhilfeschüler hat, kommt es selbst und berichtet darüber, und die Hilfe wird eingestellt. Sehr oft wird der Schul-Bank plötzlich eine Geldsumme aus dem Ausland geschickt: Es ist einer der jungen Doktoren, die eine Stelle bekommen haben und nun das erste von ihnen selbst verdiente Honorar an die Kasse schicken, die ihnen früher geholfen hat. Die Schul-Bank wird nicht als eine wohltätige Institution angeschen, sondern als eine Selbstverständlichkeit zwischen Schulkameraden. Es ist genauso, als ob einer sein Pausenbrot vergessen hat und ein Stück von jemand anderem bekommt. Ein kleines Mädchen, die Tochter eines jüdischen Geistlichen, kommt hereingestürmt: — Warum darf ich keinen Christbaum haben? Louise antwortet: —- Weil du einen anderen Glauben hast! Weil du Jüdin bist! Rosa antwortet:— Mizzi ist auch Jüdin, und sie wird einen Christbaum haben! — Ja, aber Mizzi ist getauft! — Pause: —- Könnte ich dann nicht auch getauft werden? Louise muss antworten, dass ihr Vater wohl kaum einwilligen würde, dass sein kleines Mädchen getauft wird, nur um einen Christbaum zu bekommen. Rosa ist nicht zufrieden. Offenbar hat sie das Gefühl, die Tatsache, dass sie keinen Christbaum haben wird, bedeute, dass sie nicht so gut ist wie andere Menschen. Plötzlich platzt es aus ihr heraus: — Der Kaiser ist aber doch Jude, nicht wahr? Und voller Hoffnung wartet sie auf die Antwort. Denn wenn er die Schande mit ihr teilt, dann ist es nicht so schlimm. Doch Louise muss ihr sagen, dass der Kaiser kein Jude ist. Rosa schießen Tränen in die Augen. Louise tröstet sie und verspricht ihr ein schönes Weihnachtsgeschenk; sie darf sich selbst etwas wünschen. Doch Rosa lässt sich nicht trösten. Verzagt will sie fortgehen. In der Türöffnung dreht sie sich freudestrahlend um: — Aber der liebe Gott ist doch Jude, denn das weiß ich. Und dann bekommt er wenigstens auch keinen Christbaum! Louise nickt ihr liebevoll zu. Wahrscheinlich bekommt der liebe Gott auch keinen Christbaum. Ein Vater erscheint. Man hat ihn holen lassen. Seine Tochter ist einem jungen Professor gegenüber unhöflich gewesen, der erst seit wenigen Monaten an der Schule angestellt ist. Man hatte die Kinder gebeten, Rücksicht aufihn zu nehmen, weil er ein Fremder sei, und alles sei bis jetzt gut gelaufen. Louise möchte wissen, ob Marouscha zu Hause launisch und hitzköpfig ist. Der Vater