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Hugo Bettauer Menschen Kapitel 18 des Romans „Der Kampf um Wien“ (1922) Der Schriftsteller Felix Korn begann Ralph ins Schlepptau zu nehmen und unter die Oberfläche zu ziehen. Nicht nur, weil ihm die Soupers im Imperial und im Sacher behagten, nicht nur weil ihn der Amerikaner reich beschenkte und seinen Geldnöten ein Ende bereitete, sondern in erster Linie weil ihn O* Flanagan als neuartiger Menschentypus interessierte. Korn spielte oft den Schmarotzer, aber er war keiner. Pumpte nur Leute an, die er liebte oder die er verachtete. War der Ansicht, daß der Philister seine amüsante Gesellschaft zu bezahlen hatte, der Reiche verpflichtet war, ihm von seinem Überfluß abzugeben. Weil er sich hoch genug einschätzte, um durch seine Gesellschaft Werte zu geben. Und Ralph fand an ihm Gefallen, sah in ihm den Bohemien, den es in Amerika nicht gibt und der auch in Europa abstirbt, freute sich der Bosheit, des sprudelnden und übersprudelnden Temperaments, der Verachtung alles Ungeistigen und des offenen, betonten Bekenntnisses zur Rasse. Voll Behagen lauschte er dem Vortrag Korns über die „reichen Juden‘, ergötzte sich an den Keckheiten und an den geistigen Jongleurstückchen dieses Psychoakrobaten. Und als nach Schluß der Vorlesung sich vor dem Konzerthaus eine Schar bierbenebelter Jünglinge mit dem Hakenkreuz als Symbol ihrer Inferiorität ansammelte, um den verhaßten Korn zu attackieren, da bedauerte der junge Amerikaner von ganzem Herzen, daß die Polizei so rasch einschritt. Er hätte die Ritter der Geistesarmut so gerne mit der Kunst des Boxens vertraut gemacht. Die letzten Tage des Jahres verbrachte Ralph mit Korn, der ganz Wien kannte, im Wirbel gesellschaftlichen Lebens. Nachmittags im Cafe Herrenhof unter echten und falschen Literaten, abends mit Schauspielern und Sängern, spät nachts noch mit Leuten, die irgendwie anders waren als die guten Bürger. Jour bei Sektionschef Harz. Eigentlich bei seiner Gattin, der nimmermüden Anregerin, Veranstalterin, Pädagogin Frau Dr. Eugenia Harz. Der Frau, in deren runden knabenhaften Kopf mit den kurzen Haaren immerwährend neue Ideen brodelten, menschheitsbeglückende, erzicherische, geniale und mitunter auch abstruse. Aus dem Nichts heraus schuf sie Mittelstandsheime, Freiluftanstalten, Speischallen. Launenhaft wie sie war, konnte sie liebenswürdig wie keine andere sein, aber auch abstoßend und kalt, das Äußere des Menschen war ihr mehr als nur Zufall und Hülle, war ihr das Wesentliche. Schöne schlanke Menschen vergötterte sie, Kinder mit viel Geist, aber großen Ohren und blutleeren Lippen konnte sie nicht leiden. Ihr Gatte das Gegenteil in allem. Ganz Geist, Härte, Logik und Kälte. Äußerliche Verkümmerung bestimmte sein Leben, machte ihn ungut, ließ das Verstandesgemäße zur äußersten Blüte aufschießen, aber auf Kosten des Herzens. Jetzt stand er in schwerem politischen Kampf, hervorgerufen durch seine rücksichtslose Art, die vor keinem Faustschlag zurückschreckte. Ein kurioseres gesellschaftliches Kunterbunt hatte Ralph nie erlebt, nie erträumt. Da war eine dänische Schriftstellerin von Rang und Geist, zerfließend im eigenen Fett, die Beine ohne Strümpfe, weil sie Strümpfe für unhygienisch hielt. Ein schwerhöriger Architekt verkörperte Wiens beste und erlesenste Kultur. Stilist von 84 ZWISCHENWELT gigantischer Bizarrerie, Schöpfer der extravagantesten Bauten und Interieurs und als erbitterter Feind jedes Kitsches oft weit über das Ziel schießend. Ein Gelehrter aus Grönland mit wallendem Bart lebte nur von Nüssen, eine hektische junge Frau agierte für freie Ehe und staatliche Kinderhäuser, in die alle Paare ihre Kinder abgeben müßten, ein Maler war da, der behauptete, daß man als wirklicher Künstler nur mit geschlossenen Augen malen dürfe, ein Jüngling las eben aus seinem ersten Gedichtenbuch vor, das den Dadaismus übertrumpfte. Die Gedichte bestanden nur aus Vokalen. Zwei hübsche junge Frauen, innig aneinandergeschmiegt, zwei Jünglinge, wie Inseparables aneinanderhaftend, zeigten, daß in diesem Kreis keinerlei Vorurteile herrschten, und eine mächtige Schwedin sang mit herrlichem Alt seltsam vertonte Lieder eines Kommenden. Für Ralph waren diese Stunden von unschätzbarem Wert. Neue Menschen, neue Ideen, Loslösung von uralten, ererbten Vorurteilen, tiefe Anregung, oft genug aber auch Einblick in geistiges Hochstaplertum, Borniertheit, die sich hinter Bizarrerie versteckte, Modespekulation und Konjunkturpolitik erwuchsen ihm. Er lernte Menschen kennen, die sich Schriftsteller nannten, ohne deutsch schreiben zu können, Frauen — Wohltätigkeitsfurien nannte sie Korn — die ein üppiges Leben auf Kosten jener Armen führten, für die sie Bälle und Konzerte veranstalteten, machte die Bekanntschaft der Operettenlieblinge, der Kabarettgrößen und Theaterdirektoren, zechte mit ihnen, zahlte Soupers für sie, ließ sich aber nur selten anpumpen, von der ewigen Angst gepeinigt, den Leuten nur das zu sein, was man in Wien mit dem unübersetzbaren Wort „Wurzen“ bezeichnet. Erfuhr er aber von Not und Elend, von der Möglichkeit, eine Existenz aufzurichten, dann gab er rasch, viel und diskret. Hugo Bettauers „Der Kampfum Wien“ erschien als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung „Der Tag“ und wurde am 3. Dezember 1922 folgendermaßen angekündigt: „Ein Roman, der die Tagesereignisse begleitet. ‚Jeder‘ kommt in ihm vor, unser Leben findet in ihm seinen Widerhall. Phantasie und Wirklichkeit verknüpfen sich unlösbar zu einem Werk von hinreißsender Spannung. “ Das Kapitel 18 mit dem Titel „Menschen“ erschien am 30. und 31. Dezember 1922. Ralph, bzw. Patrick Ralph O’Flanagan, ist ein US-amerikanischer Milliardär, der nach dem Ersten Weltkrieg der notleidenden Heimatstadt seiner Mutter ein Vermögen spenden möchte und dabei auf ungeahnte Schwierigkeiten stößt. Vorbild für Felix Korn war Anton Kuh. Der Roman wurde zuletzt 2012 im Milena-Verlag neu aufgelegt. Hugo Bettauer war Chefredakteur der von seinem Freund Maximilian Schreier gegründeten Zeitungen „Der Morgen“ und „Der Tag‘, in denen Hermann und Eugenie Schwarzwald immer wieder publizierten. Die Sekretärin und Autorin von „Bettauers Wochenschrift“ Joe Lederer war eine ehemalige Schwarzwald-Schülerin. (Vgl. Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien, München 2000, 430f.)