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Stella Rotenberg UNGEWISSEN URSPRUNGS Vom Eintreffen der deutschen Truppen in Österreich im März 1938 an wußte ich dumpf, daß ich eine Auslandsreise werde vorbereiten müssen. Das war weniger meiner politischen Einsicht zuzuschreiben als einem Gefühl des Untergangs, das mich bis zu meiner Einreise in England nicht verließ und mich davor bewahrte, in Holland zu bleiben. Nun weiß ich nicht mehr, wie ich die Bewilligung bekam, in die Niederlande einzureisen; wo ich die Adresse von jenem Mann in Leiden erfuhr, der mich als Haushaltshilfe anforderte; wie lange es dauerte, bis ich das Visum bekam, wann ich es bekam. Ich erinnere mich an das nächtelange Anstellen vor den verschiedenen Ämtern, um alle Papiere zusammenzubekommen, die für einen Paß nötig waren, und daran, daß ich schließlich meinen „J“-Paß erhielt. Es hat ungefähr neun Monate gedauert, ehe es so weit war. Im Sommer 1938 traf ich zufällig ein mir von der Schule her bekanntes Mädchen, das mir die Adresse vom Home Office in London und den Namen der Beamtin gab, die für das Einbringen von Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren als Hausgehilfinnen nach Großbritannien zuständig war. Ich schrieb an diese Adresse, und die Beamtin versprach mir in ihrer bejahenden Antwort, mich —da ich Medizinstudentin gewesen war — als Pfleger-Lehrling in einem Krankenhaus anzustellen. Zwischen den zwei Weltkriegen gab es in England eine Knappheit an Hauspersonal. Die britischen Arbeitermädchen, besonders die in den Städten, zogen es vor, in Fabriken zu arbeiten, und verheiratete Frauen arbeiteten nur stundenweise im Haushalt anderer Familien. So kam es, daß viele Hausfrauen, hauptsächlich Jüdinnen, gefährdete Frauen aus Deutschland und Österreich als Dienstmädchen anforderten und für sie Garantie leisteten. Die Visa waren gewöhnlich für einen Zweijahresaufenthalt ausgestellt. Es INHALT »Konvent der Biicher* Das flüchtige Jetzt UNGEWISSEN URSPRUNGS Jetzt verboten BLACKOUT Elfriede Jelinek Stella Rotenberg Louise Werner Annette Richter Redaktion „Konvent der Bücher“ Autobiografische Zeugnisse im Zusammenhang Kindheits-Saga Zwei Gedichte Ballade vom Niewiederland Berthold Viertel 1 Berthold Viertel 10 Trude Krakauer 10 Impressum: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands. Erscheint im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft seit 1984 vierteljährlich in Wien. Herausgeber: Konstantin Kaiser, Vladimir Vertlib. A-1020 Wien, Engerthstr. 204/40. www.theodorkramer.at Eigentümer, Verleger: Theodor Kramer Gesellschaft (TKG). — Die TKG bemüht sich durch geduldige Arbeit um Verständnis für Literatur und Kultur des Exils und des Widerstands. Redaktion der Ausgabe: Alexander Emanuely, Konstantin Kaiser und Verena Mermer. 2 ZWISCHENWELT gab auch nicht genug Arbeitskräfte in Spitälern, und so konnten Ärztinnen, gelernte Krankenschwestern, Medizin- und Biologiestudentinnen als Pflegepersonal in Krankenhäusern Arbeit und Unterkunft finden. Es scheint also, daß ich zwei Ansuchen gleichzeitig laufen hatte, eines um Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung in den Niederlanden und eines um dasselbe in Großbritannien. (Es bedrängt mich oft, daß ich dadurch einer anderen die Lebensmöglichkeit weggenommen haben mag, aber ich weiß, daß die Flüchtlinge, die in Holland verblieben sind, nicht überlebt haben.) Zur Zeit meiner Ausreise im März 1939 hatte ich nur das holländische Visum. Mein Bruder war im Juli 1938 geflüchtet: Er hatte versucht, in die Schweiz, nach Liechtenstein, Belgien, Holland zu entkommen, aber es gelang ihm nicht. Schließlich kam er in Kiel auf einen Dampfer, der in Schweden anlegte. Dort ließ man ihn ohne Namen, ohne Papiere, ohne Geld landen. Er schrieb selten und schr vorsichtig, um uns nicht noch mehr zu gefährden — drängte aber deutlich auf meine Ausreise. Als es dann im März 1939 wahrscheinlich schien, daß die Deutschen die Tschechoslowakei besetzen würden und man nicht sicher sein konnte, daß es trotz des Münchner Abkommens nicht zum Krieg kommen werde, verließ ich — mit Paß und holländischem Visum — Wien. Ich kam nach siebzehnstündiger Fahrt frühmorgens in Köln an, wo ich umsteigen mußte, und die Zeitungen verkündeten: „Unser Führer in der Tschechoslowakei!“ Da fing ich zu weinen an — wohl nicht allein deswegen — und habe sechs Wochen lang wenig anderes getan als geweint. Die Holländer hatten - vielleicht dachten sie, Großbritannien und Frankreich würden den Krieg erklären — ihre Grenzen gesperrt; aber nach einigen Stunden liefen die Züge wieder, und am Abend desselben Tags war ich in Leiden. [...] Aus: Stella Rotenberg: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Hg. und mit einem Nachwort v, Siglinde Bolbecher. Mit Bildern v. Hildegard Stöger. Wien 1997, 65-67 Stella Rotenberg, geboren 1916 in Wien, musste 1938 ihr Medizinstudium an der Universität Wien abbrechen und über die Niederlande nach Großbritannien flüchten. Im Exil begann sie 1940 Gedichte zu schreiben, später auch Prosa, die sie in den Bänden „Gedichte“ (Tel-Aviv 1972), „Die wir übrig sind“ (Darmstadt 1978), „Scherben sind endlicher Hort“ (Wien 1991), „Ungewissen Ursprungs“ (Wien 1997) veröffentlichte. Obwohl oder gerade weil ihr Gedichte von schlanker Schönheit und gedanklicher Prägnanz gelungen sind, die in ihrer Auseinandersetzung mit der Shoah und ihren Folgen von höchster Aktualität sind, blieb sie in ihrem Herkunftsland Österreich weitgehend unbeachtet. 2001 erhielt sie den erstmals vergebenen Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. Stella Rotenberg lebte von 1948 bis zu ihrem Tod 2013 in Leeds. Im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienen: Ungewissen Ursprungs. Gesammelte Prosa. Hg. und mit einem Nachwort v. Siglinde Bolbecher. Mit Bildern v. Hildegard Stöger. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 1997; An den Quell. Gesammelte Gedichte. Hg. v. Siglinde Bolbecher u. Beatrix Müller-Kampel. Wien 2003.