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Dienstbotenpermit, das mir meine Schwester schon vor einiger Zeit geschickt hatte, Gebrauch zu machen. Am 22. August 1939 verließ ich Wien. Es war nicht nur für uns ein denkwürdiger Tag. Die headlines der Zeitungen lauteten: RIBBENTROP FÄHRT ZU STALIN EINEN NICHTANGRIFFSPAKT ZU UNTERZEICHNEN. Die Schalterbeamtin, bei der ich mein Reisegepäck versichern ließ, sagte: „Ihnen geht's gut, Sie können ausreisen!“ Aufdem Weg bis Aachen mußten wir Juden zweimal den Waggon wechseln. Wir hätten ja durch Mitreisende etwas schmuggeln können. Nach mehrtägigem Aufenthalt bei Verwandten in Antwerpen kam ich am 1. September in London an. Von den 10 Mark, die ich mitnehmen durfte, hatte ich noch einen halben englischen Shilling. Aber das störte mich nicht, wußte ich doch, daß meine Schwester auf dem Victoria Bahnhof auf mich warten werde. Aber der 1. September war der Tag, an dem Hitler in Polen einmarschiert war. Zwei Tage später erklärte England ihm den Krieg. England war im Krieg und auf dem Victoria Bahnhof wurden bereits Truppen verladen. Ich stand auf dem Bahnhof Liverpoolstreet. Ich war zu unerfahren und mein Englisch zu schwach, um den Stationsvorstand zu bitten, meine Schwester anrufen zu lassen und zu verständigen. Was tun? Vor allem wollte ich meine beiden Koffer loswerden. Ich gab also dem Träger meine letzten 6 pence, damit er meine Koffer zur Aufbewahrung bringe. England ist bis heute wahrscheinlich das einzige Land, wo man die Depotgebühr im Voraus bezahlen muß. Ich hatte aber nicht einen einzigen penny. Also setzte ich mich auf meinen Koffer und weinte. Die Tränen waren mir ja in diesen Tagen ständig in den Augen. Ein junger Mann kam vorbei, begriff die Situation, ergriff meine Koffer, drückte mir bald den Garderobenschein in dieHand und war verschwunden, che ich noch thank you stammeln konnte. Ich betrat um 10 Uhr abends die bereits verdunkelte Liverpoolstreet, denn der black out hatte mit diesem Tag eingesetzt. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Auf einem Zettel hatte ich drei Adressen: die meiner Schwester, die von der Flüchtlingsorganisation und die von der jüdischen Herberge. Diesen Zettel reichte ich einem Schutzmann und fragte, welche der drei Adressen zufuß erreichbar wäre. Der Bobby zog sofort einen Shilling aus der Tasche und erklärte mir, daß ich jetzt, in der Nacht, nicht gehen könne, und wie ich die jüdische Herberge erreichen kann. Sofort wieder in Tränen ausbrechend, ließ ich den Bobby mit seinem Shilling stehn und begann durch das mir völlig unbekannte London zur Herberge zu wandern. Unvergeßlich die Silhouette der Türme des Tower. Gegen 11 Uhr erreichte ich mein Ziel. Der alte Jude, der Nachtdienst hatte, wollte mich nicht gehen lassen. „Sie bleiben da, essen ein gutes Nachtmahl, schlafen hier, und morgen früh bringen wir Sie zu Ihrer Schwester.“ Widerwillig und böse, nach vergeblichem Zureden, gab er mir schließlich das Fahrgeld und die nötigen Auskünfte. Bis ich meine vor ihrem Haus auf und ab patrouillierende Schwester traf, war es lange nach Mitternacht. Am nächsten Tag zur Arbeitsvermittlung für Flüchtlinge. Männer durften ja keine Arbeit annehmen, es sei denn, mit ihren Frauen zusammen als Butler-Ehepaar, Köchin und Gärtner. Dutzende arbeitssuchende Frauen, denn die allermeisten der bereits bewilligten Dienstbotenpermits waren ungültig geworden. Wir Deutsche und Österreicherinnen waren über Nacht zu FEINDLICHEN AUSLÄNDERINNEN geworden, und niemand wollte sich einen Feind ins Haus nehmen. Da alle Anstrengungen, eine Arbeit zu bekommen, fruchtlos waren, erhielt ich drei Wochen lang je ein Pfund, um nicht zu verhungern. Von den arbeitslos herumsitzenden Frauen erfuhr ich, daß in einem Priesterseminar im Norden von London Personal gesucht werde. Unter der Bedingung, daß auch meine Schwester eingeteilt werde, wurde ich Speisesaalmädchen, d.h., ich hatte den ganzen Tag Geschirr zu waschen, wir errechneten 1.447 Stück am Tag. Maschinen gab es damals noch nicht. Meine Schwester durfte die zellenartigen Räume der ca. 100 Studenten, Badezimmer und Aborte in Ordnung halten. Als sie ihren österreichischen Verlobten heiratete, verlor sie den Posten; der Herr Direktor wollte kein verheiratetes Personal. Ich blieb bis zu den Semesterferien Ende April, um dann einen Posten bei einem kinderlosen Ehepaar anzunehmen. Das war der aus vielen Krimis bekannte Russelsplatz, mitten im Universitätsviertel, und hier lernte ich die Engländer von ihrer guten Seite kennen. Meine Gnädige war ein Schatz. Sie fragte mich, ob ich einen Kochkurs besuchen wolle — Apfelstrudel ist ja sicher gut, aber sie wollte doch ihre Speisen haben. Da ich nie abgelehnt habe, etwas zu lernen, ging ich mit Begeisterung vormittags in eine vornehme Kochschule, um abends meine neuen Kiinste, Dora Schimanko, mit ihren 78 Jahren trotzdem eine junge Autorin, beschreibt in ihrer spannenden und aufwühlenden Familienchronik gekonnt, manchmal poetisch, sogar amüsant anmutend, dann traurig stimmend Alltagssitutationen zwischen Normalität, Verfolgung und Exil. „Warum so und nicht anders” bietet dank seiner literarischen Qualität einen eindringlichen Einblick in jene Zeit, die der Shoah voranging. Es folgen die Jahre der Verfolgung und man erfährt, wie die sechsjährige Dora den Kindertransport nach Großbritannien erlebt. Die Autorin erzählt in den letzten Kapiteln auch über die Zeit nach 1945, über den Tod ihrer Mutter 1980 und über die Briefe, die sie im Nachlass findet und dank denen sie vieles erst erzählen konnte. Dora Schimanko gelingt es mit diesem Buch, ihre Familie, zu der Walter Schiff, Sir Karl Popper und Käte Boll-Dornberger gehören, „aus dem Museum der toten Vergangenheit” zu holen und sie lebendig zu machen. 4 ZWISCHENWELT Dora Schimanko: Warum so und nicht anders. Die Schiffs: Eine Familie wird vorgestellt. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2011. 173 Seiten. ISBN 978-3-901602-43-6. Euro 15,90