OCR
Langusten im Rohr gebraten, frischer Lachs in Wein gekocht, zu produzieren. Es war ein herrlicher Dienstplatz. Nach dem Frühstück setzte sich meine Gnädige auf den Küchentisch und besprach mit mir das Dinner. Dann ging ich ans Telefon, rief den Fleischhauer, den Gemüsehändler, den Fischhändler an und bestellte. Es wurde umgehend geliefert, obwohl es im zweiten und dritten Kriegsjahr war. Am Ende des Monats kamen die Rechnungen, meine Gnädige stellte Cheques aus, die der Bursch mitnahm. Den Fischhändler mußte ich täglich anrufen wegen der fünf Katzen, die ich zu betreuen hatte. Auch der Papagei war in meiner Hut. Der Affe war rücksichtsvoll genug gewesen, einen Tag vor meiner Ankunft das Zeitliche zu segnen. Nur seinen Käfig mußte ich noch putzen. Nach dem Frühstück kam die Bedienerin Geschirr waschen, aufräumen. Ich war um zehn vor 6 Uhr abends frei, um mir London anzusehen — und ins Konzert zu gehen. Mit Einbruch der Dunkelheit erlosch jedes gesellige Leben. Wir hatten den „Blitz“. Das war die Abkiirzung fiir Hitlers Blitzkrieg. Täglich um 6 Uhr setzten die Sirenen ein und erst am Morgen wurde Entwarnung gegeben. Auf meinem Dienstplatz hatten wir im Keller einen Schutzraum wie ein Schlafzimmer eingerichtet. Natürlich wäre das nie ein Schutz vor einem Volltreffer gewesen, aber, wenn es mir gelungen war, meine fünf Katzen und den Papagei Guru einzufangen und bei mir einzusperren, konnte ich ein paar Stunden schlafen. Ein kleines Erlebnis, weil es auch ein bißl lustig war. Ich ging jeden Tag in den Keller mit einem kleinen Köfferchen, das mein und meiner Schwester gesamtes Vermögen enthielt. Ich ließ es unbedacht am Eingang stehen, und während ich schlief, kam ein Dieb, nahm vom Nachttisch meine Handtasche, die nur ein Pfund enthielt, ließ den Koffer unbeachtet stehen, weil er meinte, daß darin doch eh nur Unterwäsche sein werde. Die Handtasche ohne das Geld wurde dann in einem Löschtank gefunden. Als eines Tages eine Landmine vor unserem Haus einschlug und sich einbohrte, mußten wir in eine Untergrundstation gehen, wo man meinte, geschützt zu sein. Dieses Schicksal teilten wir mit tausenden Londonern. Um 6 Uhr, bei Ertönen der Sirenen, rannten von allen Seiten Menschen zu den U-Bahn-Stationen, Mütter mit Kleinkindern am Arm und dem Bettzeug, Junge, Alte, jeder suchte in der U-Bahn Schutz. Bis ein Uhr nachts ratterten die Züge jede zweite Minute durch, dann war Ruhe bis 5 Uhr. Wenn wir aus der U-Bahn entstiegen, sahen wir die Verwüstungen, die in der letzten Nacht angerichtet worden waren. Man kletterte über Schutt und zerstörte Häuserzeilen. So fand ich eines Morgens unser Nachbarhaus in Trümmern. Sie hatten Glück, sagte der Luftschutzwart, der mich schon kannte. 400 Tote hier am Russelsplatz. — Wie begrabt man 400 Tote? — Nichts geblieben zum Begraben. — Ende 1942 begriffen die Engländer, daß die Flüchtlinge besser eingesetzt werden könnten, und wir bekamen Arbeitserlaubnis für Büroarbeit. In der Heimatlosigkeit der Emigration wurde mir der Austrian Labour Club (ALC) zur Heimat. Dem ALC gehörten nur Mitglieder der österreichischen Sozialdemokratie an. [...] Am 2. August 1942 las Theodor Kramer bei uns. — Natürlich hatten wir Feiern am 1. Mai (die Engländer feierten ihn am darauffolgenden Sonntag) und Republikfeiern am 12. November. [...] Dann kam der VICTORY DAY. Unbeschreiblicher Jubel. Noch keine Straßenbeleuchtung. Fremde umarmten und küßten einander, Piccadilly, Regentstreet, Oxfordstreet, Tanz, Gesang, ein Freudentaumel. Lassen Sie mich abschließend noch von einer Aktion erzählen. Nach Beendigung der Kampfhandlungen fuhren englische Abgeordnete jeder Couleur nach Österreich, um sich an Ort und Stelle über die Verhältnisse zu unterrichten. Unsere Freundin, Abgeordnete Barbara Ayrton-Gould war unter den ersten. Davon berichtete sie im Radio zur besten Zeit, Sonntag 20 Uhr. Sie erzählte in ihrer schlichten englischen Art, wie sie in Wien zwischen zerbombten Häusern über Schutt geklettert sei, wie in Coventry, wie in London. Sie sah ausgehungerte Menschen durch die Straßen schleichen, Mütter, die mangels jeder Fahrgelegenheit ihre Kinder in Spitäler trugen u.s.w. Der Widerhall war ungeheuer. Am nächsten Tag rief sie den ALC und das Austrian Centre an, Hilfskräfte in das Quäkerhaus zu schicken. Marianne Pollak beorderte mich, und ich nahm mir zwei Tage Urlaub im Büro. Ich blieb eine Woche weg. Das Quäkerhaus hatte uns ein Zimmer zur Verfügung gestellt, wir waren vier Frauen und ein Mann, Barbara kam einige Male im Tag zu schen, was es gibt. Damals wurde nach sechs Kriegsjahren, noch fünf mal im Tag Post zugestellt. Nach jeder Zustellung kamen zwei Hausarbeiter mit einem Wäschekorb von Briefen und schütteten den Inhalt auf den Fußboden, und wir fünf stürtzten uns auf die Arbeit. Viele Briefe begannen damit: Es war schon Sonntag abend und ich hatte noch keine Gelegenheit, meine Sonntagstat zu leisten. Als ich ihren erschütterten Bericht hörte, wußte ich, was ich zu tun habe. In solchen nicht eingeschriebenen Briefen befanden sich ein oder mehrere Pfundnoten. Es kamen Kinderbriefe mit Briefmarken, ich erinnere mich einer Arbeiterhand, die einer Metallarbeiters und Betriebsrates.“ November 2019 5