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„Unmeisterlichen Wanderjahre“ Jean Amerys‘, die das Streben des Autors nach einer Vernünftigkeit dramatisieren, die weder bloß selbstzufriedene Tugend angesichts des unabwendlichen Weltlaufs, noch ein naives Vertrauen in die Vernünftigkeit alles Wirklichen voraussetzt. Die Welt bleibt nach der „Endlösung“ eine im Grunde unbegreifliche, doch darum nicht unveränderliche. Viertens ist die spezifische Perspektive jüdischer Verfolgter zu beachten, die ein Berthold Viertel in „Kindheit eines Cherub — Autobiographische Fragmente“ zu gewinnen versucht. Berthold Viertel Kindheits-Saga Aus „Kindheit eines Cherub — Autobiographische Fragmente“ Wir alle beginnen so früh mit unseren „Sagas“ — und wir dichten so viele davon, je nach Bedarf (jeder Mensch sein eigener Hausund Hof-Dichter): dass es wirklich schwer ist, nach Jahr und Tag Ordnung in dieses Chaos zu bringen. — Alle diese Geschichten, mit dem Ich als Helden, die jeder Mensch sich verfasst, so viele Rollen sich auf den Leib schreibend: jeder Mensch schleppt sie mit sich herum, ganze höchst ungeordnete und unausgelüftete — Bibliotheken davon. Dieses sind die wahren Privat-Bibliotheken. Jeder Mensch verschließt in sich sein eigenes Byzanz, Alexandria und Padua, sein British Museum mit der gestohlenen Akropolis. — Selten die Menschen, welche diese ihre inneren Bibliotheken in Gebrauch nehmen und behalten gelernt haben. — Man wird hineingeboren in etwas, das man erst später erkennen, erleiden und definieren wird. — Das also war Wien, im Jahre 1885 der europäischen Zeitrechnung. Ich wurde dort und dann geboren, in die Welt befördert, aber ich war nicht dabei. Mein Vater und meine Mutter waren dabei, ein Arzt, eine Hebamme - und viele Väter und Mütter, Anmerkungen 1 EC. Weiskopf: Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur 1933 — 1947. (Mit einem Anhang von Textproben aus Werken exilierter Schriftsteller.) Berlin 1948. 191 S. — Weiskopf verarbeitete z.T. die Ergebnisse einer Umfrage bei verschiedenen ExilschriftstellerInnen, die 1944 im Umkreis des New Yorker AuroraVerlages initiiert wurde. 2 Fred Wander: Der siebente Brunnen. Berlin, Weimar 1971. 3 Vgl. dazu Konstantin Kaiser: Phasen der Rezeption und Nicht-Rezeption des Exils in Österreich — skizziert am Skandal der Exilliteratur. In: Evelyn Adunka, Peter Roessler (Hg.): Die Rezption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung. Wien 2003, 21-34. 4 Jean Améry: Unmeisterliche Wanderjahre. Stuttgart 1971. von denen ich herkomme, die sich aber ins Dunkel verlieren. Es war schwierig, etwas von ihnen zu erfahren. Sie waren Juden, sie kamen zunächst aus Galizien, dem damals österreichischen Teil Polens. Der Name der Familie ist ein verstümmeltes deutsches Wort, das auf eine Stadt in Deutschland hinweist, die im Mittelalter eine berühmte jüdische Gemeinde beherbergte. So mögen meine Väter sich durch das deutsche Mittelalter durchgezwängt, durchgekämpft und durchgelitten haben. Noch nachträglich eine erschütternde, eine herzzermarternde Perspektive! — Die Herkunft eines Juden ist meistens von undurchdringlichem Dunkel erfüllt. Diese wahrhaft ägyptische Finsternis pflegt schon bei der dritten Generation nach rückwärts zu beginnen. Die ausmerzende Hand der Diaspora hat die Lebenslinien dieser Familien vernichtet. Der Fluch: „In der Zerstreuung sollst du leben!“ — ist oft vom Schicksal schrecklich ernst und wörtlich genommen worden. Und welchen Grad von innerer und äußerer Zerstreutheit erreicht oft solch ein Mensch, der der Sohn ist, der Sohn von alledem, Sohn des Ghettos, Sohn der Vertreibung, der Studieren war in den Gefängnissen und Lagern des Nationalsozialismus auch eine Überlebensstrategie. In der Haft die eigene Dissertation zu verfassen, blieb Marie Tidl vorbehalten. Eine sensationelle Leistung, die sie mithilfe ihrer Mutter vollbrachte, die an ihrer Stelle Vorlesungen besuchte und ihr Bücher aus den Bibliotheken ins Gefängnis brachte. Georg Tidl Leben und Werk der österreichischen & Maric Tid] 1916 — 1995 Georg Tidl zeichnet die Lebensgeschichte einer mutigen, begabten, konsequenten Frau nach, die seine Mutter war und in ihren Schriften, Prosaarbeiten, Gedichten nie aufgehört hat, gegen die Überwältigung durch das Unmenschliche anzukämpfen. Mit Prosa und Gedichten Marie Tidls und einem Werkverzeichnis. Georg Tidl, Marie Tidl: Frieden Freiheit Frauenrechtel Leben und Werk der österreichischen Schriftstellerin Marie Tidl 1916 - 1995. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2018. 274 Seiten. ISBN 978-3-901602-74-0. Euro 24,00 November 2019 7