OCR
Wanderung, der immer neuen Ankunft in unerforschten und vielleicht ewig unerforschbaren Gegenden, wo der Sprachgeist fremder Völker wie jener Engel mit dem Hammenden Schwerte abwehrend vor dem Paradiese einer Heimat steht. — Es ist kein Jude geboren, dessen Väter und Vorväter nicht das Brot der Verfolgung gebrochen und wieder ausgebrochen haben — Verfolgung um der Verfolgung willen, mit zu diesem Zweck herangebrachten Gründen. Es ist merkwürdig genug: Man kann oft von der Vorgeschichte eines jüdischen Menschen so wenig Bestimmtes sagen, aber einiges ganz bestimmt. Er ist Jude, also ist er aus der Geschichte herausgeworfen - und doch, auf schwierigen Wegen in die Geschichte wieder hereingebracht. Was immer das sein mag: Judentum - : Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk oder Reste davon, Reste einer Religionsgemeinschaft, einer geistigen Prägung, die durch und durch gegangen ist: jedenfalls, dieses Etwas ist — posthistorisch. Es hat Historie gehabt, ein Land (um es zu verlieren), Priester, Könige, einen eigenen Gott und dessen Gebote und Gesetze. Die Geschichte der Juden schein zum größten Teil die Geschichte eines Gottes (oder Götzen) zu sein, Geschichte eines Bekenntnisses und von dessen Folgen. Ob, was aus Ägypten auswanderte, vielleicht nichts anderes gewesen ist als ein Abhub von Völkern und Rassen, ein Gemisch und Gemengssel, eine proletarische Masse von Pyramidenbauern, eine „Notgemeinschaft“ schon damals -: jedenfalls, unter dem Sinai-Gesetz hat sich das Volk konstituiert, als ein Volk im historischen Sinne. Es ist nicht wichtig für den Nachkommen, hier Legende von beweisbarer Wirklichkeit zu sondern. Dieses Bekenntnis, dieser Gott mag der Sohn oder Vetter anderer Götter sein. Und seine Geschichte mag nachträglich in Linie gebracht worden sein, von den geistig entschlossenen Männern, etwa in der babylonischen Gefangenschaft. Die Lehre selbst ist, wie man weiß, eine Mischung von Legende, Chronik der Zeiten, Lehre und Dichtung, zuerst einmal zusammengefaßt und — geleimt zu einem Buche, das historisch bestimmt war, „Buch der Bücher“ zu werden, Sämerei europäischer Kulturen, die mit dem Judentum nichts Weiteres und nichts Näheres zu schaffen haben wollen. Man könnte sogar sagen: die Geschichte der Juden ist die Geschichte eines Buches, die Geschichte dieses Buches zunächst. (Wahrscheinlich ist das auch, oft genug, gesagt worden.) Aber, jedenfalls, Teil der Geschichte ist das alles, gewisse (wenn auch vieldeutige) historische Bedeutung. Nur wollte es schon dem Knaben (den ich erinnern will) vorkommen, als wäre alles Jüdische von Anfang an nur mit einem Fuße in dem gestanden, was man Geschichte nennt. Daß das so war, oder gewesen sein könnte, gehörte zur Saga dieses Knaben. — (Ich nenne es willkürlicher Weise „Saga“, mit einem nordischen Ausdruck, den an sich der Teufel holen möge, weil er oft genug von falschen Lehrern, Wasser trübenden Mythologen mißbraucht worden ist. Gemeint ist jene Legenden- und Märchenbildung um das Ich herum, die in der dunkelsten Kindheit beginnt, den Keim jeder Seele und die Schöpfung jeder inneren Kontinuität, jeder inneren Lebensgeschichte — und das ist jeder individuellen Lebensgeschichte — ausgemacht.) [...] Es ist schwer, vierzig Jahre später zu den Wurzeln einer Kinderseele zurückzukehren. Besonders schwer, wenn das sich selbst dichtende Ich soviele Wälder und Gärten über diesen Wurzeln aufgebaut hat, wenn soviele dieser inneren Landschaften durch Katastrophen zugrundegegangen sind. Das Ich hat so triftige Gründe, zu vergessen und sich falsch zu erinnern. Falsch, weil um- und umdichtend. Der ernsthafte Versuch, die innere Kontinuität ein Leben lang zu erhalten, ist an sich ein heroischer, und keiner kann da restlos wählerisch in den Mitteln und Methoden sein, keiner, der lebendig, das heißt: ohne Aufgeben der „Logik“ Mittlerweile waren wir die einzigen Juden am Gang. Wir hatten nun zwei SA-Männer und zwei neue Mieter, die jüdische Wohnungen arisiert hatten. Und unter uns die „streng gläubigen Katholiken“, die Vanitscheks. [...] Und speziell sie machten uns in den folgenden sieben Jahren psychisch fertig. Sogar unsere Mutter fürchtete sich nun — und wir natürlich mit ihr. Von diesem Zeitpunkt an durften wir in unserer Wohnung nur mehr bloßfüßig herumgehen, damit ja kein Geräusch nach unten drang. Wir mussten herumschleichen, als wären wir Einbrecher. Aus: Vilma Neuwirth: Glockengasse 29: Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. Wien 2008, 67 Es gab auch Nachbarn, die sich uns Juden gegenüber sehr anständig verhielten. Frau Arzberger war eine von ihnen. Sie führte eine Fleischerei in der Glockengasse und gab Mutter sehr oft unter der Budel Fleisch ohne Lebensmittelkarten. Wir Juden hatten Lebensmittelkarten, in denen zwei Drittel der Lebensmittel als „ungültig“ durchgestrichen waren. Aus: Vilma Neuwirth: Glockengasse 29: Eine jüdische Arbeiterfamilie in Wien. Wien 2008, 90 Ich hielt die Atmosphäre in dieser Wohnung auch nicht aus. Mich trieb es aus unbekannten Gründen auf die Straße, doch ich kam nicht weit. Kaum hatte ich das Haus verlassen, sah ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gruppe junger Burschen in Uniform der Hitler-Jugend (HJ). „Da is der Jud“, hörte ich und fing zu laufen an. In der Mollardgasse kannte ich ein Durchhaus zur Wienzeile. Dorthin flüchtete ich und dachte zu entkommen. Doch vergeblich. Im Haus erwischten sie mich und droschen auf mich ein. „Ihr Juden habt unseren Volksgenossen ermordet, dafür müsst Ihr büßen!“ „Ich war's nicht“ oder „Was kann ich dafür?“ oder Ähnliches sagte ich, aber es war sinnlos. Ich versuchte, so gut es ging, mit den Armen meinen Kopf zu schützen. Trotzdem hatte ich ein blutunterlaufenes Auge und mehrere geschwollene Stellen im Gesicht abbekommen. Mir schien die Prügelei endlos. Die Stimme des HJ-Führers klang direkt menschlich, als er sagte: „So, jetzt hat er genug.“ Aus: Walter Stern: Das Überleben hat gelohnt. Erinnerungen eines Metallarbeiters und Betriebsrates. Wien 2008, 35 8 _ ZWISCHENWELT