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Konstantin Kaiser Editorial: Philosophieren im Exil Die Theodor Kramer Gesellschaft plant für 2021 eine Tagung über „Philosophieren im Exil“. Die Tagung ist aber nicht als eine fachphilosophische intendiert, soll sich auch nicht auf die ‚großen‘ Denker des Exils kaprizieren, sondern auf breiter Basis den Nachdenklichkeiten der Exilierten (‚damals und, sofern möglich, auch ‚heute‘) nachgehen. Daher: Philosophieren — es ist dazu nicht unbedingt nötig, eine akademische Eintrittskarte gelöst zu haben. Der vorliegende Text ist in anderer Fassung schon am 21. Jänner 2005 unter dem von mir nicht gewählten Titel „Das Exil und seine Herausforderungen für die Philosophie“ in der Wiener Zeitung erschienen und sollte zur Teilnahme an einer „Akademie des Exils“ im Arnold Schönberg Center einladen. Referenten waren u.a. Kurt R. Fischer und Friedrich Stadler. Veranstalter waren die „Wiener Vorlesungen“, die „Österreichische Gesellschaft für Exilforschung“ und das Schönberg-Center. Die zentrale Bedeutung, die die Erfahrung von Exil und Verfolgung in der Entwicklung der europäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts hat, ist den wenigsten, die sich mit Philosophie befassen, geläufig. Selbst denen, die Philosophie studieren, oft nicht. Das Philosophieren eines Theodor W. Adorno etwa hätte eine ganz andere Richtung genommen, wäre er nicht gezwungen worden, aus Hitlerdeutschland zu flüchten. Seine „Minima Moralia“ und die zusammen mit Max Horkheimer verfaßte „Dialektik der Aufklärung“ sind genuine Werke eines schöpferischen, angesichts der geistigen Katastrophe des Nationalsozialismus seinen Standpunkt behauptenden Exils. Im Exil enstanden ist auch Karl Löwiths vielgelesene Kritik der Geschichtsphilosophie, „Weltgeschichte als Heilsgeschehen“. Im Exil verfaßte Ernst Bloch sein vielberufenes „Prinzip Hoffnung“, das sich als geschichtsphilosophischer Gegenentwurf zur Geschichtsskepsis Löwiths lesen läßt. Im Exil lösten sich Hannah Arendt und Herbert Marcuse aus dem Bann ihres philosophischen Mentors Martin Heidegger und entwickelten jene Konzeptionen, die im deutschen Sprachraum erst viel später ein breites Lesepublikum fanden. Und für einen Jean Paul Sartre waren die Jahre der deutschen Besetzung Frankreichs, 1940-44, die Verbundenheit mit der Resistance entscheidend für den weiteren Weg, der auch in diesem Fall eine Ablösung vom Einfluß Heideggers mit sich brachte. Die unmittelbare Erfahrung der Verfolgung in Budapest prägte die ungarisch-jüdische Philosophin Ägnes Heller, eine Schülerin zunächst des kommunistischen Theoretikers Georg Lukäcs, der aus dem Exil in Moskau die grundlegenden Studien zu seinem Riesenwerk „Die Zerstörung der Vernunft“ mitbrachte, letztlich ein Versuch, die „dialektische Vernunft“ Hegels (ohne die der Marxismus nicht denkbar ist) sowohl vor dem Zugriff des Nationalsozialismus zu retten als auch vor den Verdächtigungen der Totalitarismustheoretiker verschiedener Provenienz. Man könnte fast von einer Produktivität der Exil- und Verfolgungserfahrung sprechen. Diese verdankt sich aber nicht so sehr der persönlichen Bedrängnis, der die Philosophierenden ausgesetzt waren, dem Verlust der akademischer Ämter oder der entschwundenen Aussicht auf künftige Lehrtätigkeit, der Bedrohung des eigenen Lebens und der Notwendigkeit, in einer noch wenig bekannten Umgebung und Sprache seine Tätigkeit fortsetzen zu 4 ZWISCHENWELT müssen — meist unter zunächst sehr ungünstigen Bedingungen. Die philosophische Produktivität des Exils läßt sich eher aus dem Zusammenfallen persönlicher und geistiger Bedrängnis erklären, daraus, daß der Triumph des Nationalsozialismus nicht nur die eigene Position, sondern auch das philosophische Weltbild in Frage stellte. Die Weltkrise ist zugleich geistige Krise, in der unvermittelt zusammenprallt und ineinander übergeht, was zuvor einigermaßen geordnet und ausdifferenziert nebeneinander liegen zu schien. Der ausgespreizte Fächer der Kultur und des Wissens findet sich mit einem Mal zusammengeklappt. Es waren einige große Fragen, die die Philosophie des Exils beschäftigen mußten. Die Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft, der Vormarsch faschistischer Bewegungen in fast allen europäischen Ländern bedeuteten eine Niederlage der Vernunft und stellten philosophisches Denken vor die Wahl, entweder der überkommenen Vernünftigkeit fortan radikal zu mißtrauen, oder aber die Aufklärung als eine nicht vollendete zu sehen, als eine Aufklärung, die erst halb aus religiösen, mythischen und metaphysischen Vorstellungen herausgefunden hatte. Auch war die geistige Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu bedenken, in der die deutsche Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle spielte. Dies führte, nicht nur bei den Philosophierenden, zu einer Neuorientierung an der deutschen Klassik und den französischen Enzyklopädisten, worin man einen noch nicht vom Pesthauch des Rassismus und Sozialdarwinismus verschrten Ausgangspunkt zu finden glaubte. Ein im Grunde geringeres Problem, zumindest intellektuell, war der nationalsozialistische Angriff auf die Einheit des Menschengeschlechts, sein Antihumanismus, der sich im rassistischen Antisemitismus und im Vernichtungskrieg gegen die slawischen „Untermenschen“ verwirklichte. Ihn hatte eine lange Reihe ehrwürdiger Akademiker und scektiererischer Wirrköpfe mit vorbereitet, die die christliche, von den meisten Philosophen geteilte Auffassung von der gemeinsamen Abstammung der Völker seit Jahrhunderten bekämpft hatten, wobei sich manche von ihnen als Aufklärer und Rebellen gegen das bestehende Unrecht dargestellt hatten. So abstrus die nationalsozialistischen Lehren von der Abstammung der Völker waren, konnte ihnen doch nicht einfach mit der Berufung auf die Menschheit als allen Menschen irgendwie innewohnendes Abstraktum entgegengetreten werden. Es galt also das Menschliche, das Menschen- und Völkerrecht konkreter und verbindlicher zu fassen. Die Fortdauer des Vernichtungskrieges und die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen wie der Atombombe konfrontierten die Philosophierenden zudem mit der Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit durch sich selbst, also mit der Vorstellung einer Katastrophe, die jeden weiteren Fortgang ausschließt. Prekär wurde damit die Zukunft als ein unabgeschlossener, offener Raum menschlichen Denkens und Handelns. Von einer „gespaltenen Zukunft“ spricht ein Elias Canetti. Zum Philosophieren im Exil, zu einer Neuorientierung und Neudurchdenkung der Welt sahen sich nicht nur die Leute vom Fach gezwungen. Schriftsteller wie Hermann Broch und Berthold Viertel suchten in eigenwilligen philosophischen Entwiirfen Antworten auf die Krise der Zeit. Der Biochemiker Erwin Chargaff dachte in New York iiber die Auflésung der ,,festen Formen“ des