OCR
Städte. In Budapest zum Beispiel bestand 1891 ein Fünftel aller Wohnungen nur aus einem Raum und in Graz gab es im Jahre 1900 in 80 Prozent der Kellerwohnungen kein Fließwasser, nur 8 Prozent hatten Toiletten und 43 Prozent der Einzimmerwohnungen beherbergten drei Personen oder mehr. Dazu kam die „Erzpest“ (Stefan Zweig) des Nationalismus — „Die neue Religion ist der Nationalismus“ (Graf Choinicki in Joseph Roths Roman „Radetzkymarsch“) — unter anderem mit einer Magyarisierungswelle in Kroatien. Und der Antisemitismus erstarkte. In Ungarn sollten Juden zur Auswanderung nach Palästina ermutigt werden, andernfalls — so der Führer der antisemitischen Partei 1878 — sie „uns mit einem eisernen Ring“ umklammern werden. In Österreich forderte Georg von Schönerer 1885 die Beseitigung allen jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben und Franz Joseph I., Herrscher über beide Länder, stellte resignierend fest, dass „der Antisemitismus ... eine bis in die höchsten Kreise grassierende Krankheit“ und die Agitation „eine unglaubliche“ sei.” Viele sahen ihr Heil nur mehr in der Emigration. Auswanderungsbewegungen hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie sind ein konstitutives Element der Menschheitsgeschichte. Aber jetzt wurde die Emigration zum Massenphänomen, ermöglicht auch durch die Verbesserung der Verkehrsträger (Dampfeisenbahn, Dampfschiff), die eine „Demokratisierung“ des Reisens brachte, ganz abgesehen von den rechtlichen Voraussetzungen. Das österreichische Staatsgrundgesetz von 1867 verankerte unter anderem das Prinzip der Freiheit der Auswanderung („Die Freiheit der Auswanderung ist von Staatswegen nur durch die Wehrpflicht beschränkt.“) Der Staat selbst tat nichts, um einen Abgang seiner Bürger zu verhindern. Wirtschaftliche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation in den von Auswanderung besonders betroffenen Regionen wurden nicht gesetzt. Zwischen 1876 und 1910 wanderten aus Österreich-Ungarn mindestens fünf Millionen Menschen aus. Aus Galizien emigrierte eine Drittelmillion Juden, während die slawischen Völker mit 60 Prozent die höchste Emigrationsquote hatten. Ein Fünftel der Slowenen Altösterreichs, das waren 1,25 Millionen, verließ die Heimat. Fünf Millionen Auswanderer! Das waren 10 Prozent der Gesamtbevölkerung der Doppelmonarchie. 3,5 Millionen oder 70 Prozent von ihnen gingen nach Übersee, 83,3 Prozent davon in die Vereinigten Staaten von Amerika. Zwischen 1901 und 1910 kam sage und schreibe ein Viertel aller US-Emigranten aus den Ländern des Habsburgerreiches.° Für die, die den „Großen Bruch“ und den damit verbundenen Verlust an Vergangenheit gewagt hatten, wurde die vor Manhattan gelegene Einwanderungsinsel Ellis Island „the Gateway to America“, zu einer Stätte des Wartens, des Bangens wie freudigen Hoffens und des Neubeginns. Ein ungarischer Emigrant frohlockte: „In Amerika ist das Leben golden, in Amerika ist es niemals dunkel“ und eine tschechische Auswanderin aß hier zum ersten Mal weißes Brot.* So manche, so mancher machte Karriere in Übersee. Genannt sei nur der 1847 in Mako/Ungarn geborene Joseph Pulitzer. Er wurde zu einem der Großen im amerikanischen Journalismus. Der berühmte „Pulitzer-Preis“ trägt seinen Namen.’ 6 _ ZWISCHENWELT Etlichen jedoch war in Übersee kein gutes Schicksal gnädig, wie jenem Freund Peter Roseggers, der nach Amerika ging und nach anfänglichem Glück schrieb: „Schicke mir Erde aus Steiermark, Muss Weib und Kind begraben!“ In die Neue Welt gelangten sie alle mit dem Schiff. So ein Ozeanriese spiegelte in einem Mikrokosmos die „Welt von Gestern“ - um mit Stefan Zweig zu sprechen — wider; eine StändePyramide vom Blut- und Geldadel, der über den großen Teich champagnisierte, bis zu den Auswanderern im Zwischendeck, strikt getrennt durch pekuniäre und soziale Barrieren.’ Das Zwischendeck galt als Etage für die „menschliche Ware“, für die „zusammengekauerten Massen“, den „huddled masses“, wie es in dem von Emma Lazarus verfassten Gedicht auf dem Sockel der New Yorker Freiheitsstatue heißt. Das Agentenwesen, oder besser gesagt, das Agentenunwesen erlebte eine Hochblüte. Es schien, als ob den Reedereien die Zahl der Auswanderungswilligen nicht genügte. Sie suchten diese durch eine aggressive Werbung noch zu steigern. Und das mit Schleppern, die selbst der Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd als „Abschaum der Menschheit“ bezeichnete. Doch das Geschäft war äußerst lukrativ — „ohne Zwischendeckpassagiere wäre ich innerhalb weniger Wochen bankrott“, bekannte der Chef der HAPAG - und so wurde ohne Skrupel mit falschen Versprechungen geködert.® Die Vorspiegelungen vom Paradies auf Erden, vom Land, in dem Milch und Honig fließen, stießen vor allen in den östlichen Regionen der Donaumonarchie auf Widerhall, waren es doch ziemlich isolierte Gebiete mit einer durch Missernten verarmten, stark analphabetischen Bevölkerung. Am Beginn der Reise in das Ungewisse stand ein Hafen. Das Gros der Auswanderer Alt-Österreichs verließ Europa über die Nordsechäfen Hamburg und Bremen/Bremerhaven. Aber auch Triest und für die ungarische Reichshälfte Fiume/Rijeka waren Ausgangsorte.’ Im November 1903 eröffnete die britische Reederei Cunard einen regulären Liniendienst auf der Strecke Rijeka-New York. Unter denen, die auf dem Rudolfs-Kai (heute Orlandov-gat) das Einlaufen des Cunard-Dampfers „Caronia“ beobachteten, war Fiorello La Guardia. Er wurde 1882 als Kind von Emigranten in New York geboren. Die Familie kehrte 1899 nach Rijeka, der Heimatstadt des Vaters, zurück. Doch bereits zwei Jahre später zog der Vater weiter. Der Sohn kam mit seiner aus Istrien stammenden Mutter nach Triest. Später wieder in den USA, erhielt La Guardia mit 18 Jahren eine Anstellung im Generalkonsulat der Vereinigten Staaten in Budapest. 1904 wurde er Leiter der US-Konsularagentur in Rijeka und das am Höhepunkt der Emigrationswelle.'” Alle zwei Wochen lief ein Schiff, das bis zu 2.000 Passagiere aufnehmen konnte, in Richtung USA aus, über 330.0000 Emigranten — von den Einheimischen misstrauisch beäugt - sollte der Hafen in den kommenden Jahren zählen. „... nach Amerika fährt man nicht nur auf dem Schiff, sondern auch mit Dokumenten“, heißt es im Roman „Hiob“ von Joseph Roth.!! Und Fiorello La Guardia war einer, der solche Dokumente ausfertigte. Seine Unterschrift findet sich auf rund 90.000 Auswandererdokumenten! Jahrzehnte nach seiner Tatigkeit in Rijeka vermerkte er in seinen Memoiren: