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Alois Woldan Laudatio auf Claudia Erdheim, gehalten am 4. Oktober 2019 in Niederhollabrunn Ich habe Frau Erdheim im Jahr 2003 kennengelernt, in der Stadt Drohobycz in der Westukraine, wo sie forschte und ich an einer Konferenz teilnahm. Ich war mir zunächst über den Charakter ihrer Forschungen nicht klar, bis dass ich drei Jahre später das Buch las, zu dem Frau Erdheim in Drohobycz recherchiert hatte. Es ist ein außergewöhnliches Buch, das ich Ihnen im ersten Teil meiner Laudatio vorstellen und damit näherbringen möchte. Und es ist ein Buch, das meines Erachtens die Verleihung des Theodor Kramer-Preises an die Autorin unbedingt rechtfertigt. „Längst nicht mehr koscher. Die Geschichte einer Familie“ (2006): Es ist eine Familiensaga, wie schon der Untertitel ahnen lässt, eine Geschichte, die über vier Generationen geht, wie aus dem Stammbaum auf der Umschlaginnenseite ersichtlich ist, es ist schließlich die Familiengeschichte der Verfasserin, wie man aus dem Nachnamen der Protagonisten erschließen kann. Mit dem Haupttitel wird eine weitere wichtige Thematik angesprochen — das Schicksal einer jüdischen Familie, geprägt zum einen von einer inneren Entwicklung, dem Abrücken von den rituellen Vorschriften zugunsten einer pragmatischen Lebenshaltung, zum anderen aber bedroht von der äußeren, politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wie in jeder Familiensaga wird die interne Geschichte, die sich aus zyklisch wiederkehrenden Ereignissen konstituiert, von einer Historie überschattet; in diesem Fall aber bedeutet der Einbruch der Geschichte eine fast völlige Auslöschung der Familiengeschichte. Zum Fatum der Zeit kommt das des Ortes, an dem diese Geschichte ihren Ausgang nimmt — die Stadt Drohobycz, seinerzeit in Galizien, dann in Polen, heute in der Westukraine gelegen. Für die Familie Erdheim der ersten beiden Generationen ist Drohobycz das Zuhause, fast im Sinn eines gelobten Landes, denn dort liegt der Ursprung ihres Reichtums, in den Erdöl- und Erdwachsgruben. Die Vertreter späterer Generationen werden dort Opfer des Holocaust. Liest man die Schilderungen aus dem Alltag um die Gruben in Boryslaw, von Armut, Ausbeutung und nationalen Gegensätzen, die als Gegenstück zur Geborgenheit der Kinder in der jüdischen Familie funktionieren, so wird man an ähnliche Darstellungen in der polnischen, ukrainischen und bisweilen auch deutschsprachigen Galizienliteratur vor 1900 erinnert. Vor allem Iwan Franko hat das Elend der Industriearbeiter, aber auch die Skrupellosigkeit der besitzenden Schicht in einer Reihe von Erzählungen und Romanen gestaltet, von polnischer Seite haben Jözef Rogosz und Artur Gruszecki darauf zurückgegriffen. Die Glaubwürdigkeit, mit der das historische, soziale und konfessionelle „setting“ dieser Familiengeschichte nachgezeichnet wird, ist beeindruckend. Ausführlich hat die Verfasserin in westukrainischen Archiven und an Originalschauplätzen recherchiert, mit Hilfe von Einschüben aus der damaligen lokalen Presse vergegenwärtigt sie die Situation um 1900. Die Briefe der Protagonisten, im Originalwortlaut in die Erzählung eingefügt, stellen eine wichtige Ergänzung zu den geschilderten Fakten dar und bereichern den Text in stilistischer Hinsicht. Der Lebensweg der Familie Erdheim führt schon in der zweiten 18 _ ZWISCHENWELT Generation nach Wien, in die Hauptstadt der Habsburgermonarchie, so wie viele andere junge Juden, Polen und Ukrainer, die es zum Studium in die Hauptstadt zog. Der Erste Weltkrieg, der eine gigantische Flüchtlingswelle aus Ostgalizien nach Wien bringt, lässt weitere Familienangehörige nachkommen, Wien wird zum neuen Zentrum der Familiengeschichte. Ausführlich ist diese Stadt im Roman präsent, gleich, ob es sich um das Wien um 1900, die Stadt während des Ersten Weltkriegs, in der Zwischenkriegszeit und danach handelt. Auch mit der Schilderung der Verhältnisse in Wien beweist die Verfasserin, wie sehr sie mit der gewählten Mischung aus Fiktion und Dokumentation der Wahrheit dieser Stadt gerecht wird. Man kann den größeren Teil dieser Familiensaga auch als eine Wien-Geschichte lesen, indem man diese Stadt mit den Protagonisten des Buches entdeckt und deren Geschichte verfolgt. In Wien machen die Protagonisten auch Bekanntschaft mit dem Antisemitismus, dessen Äußerungen schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht zu überhören sind, der in der Zwischenkriegszeit jedoch immer bedrohlichere Formen annimmt. Die Situation im Wien der späten 1920er- und 1930er-Jahre, nachempfunden aus der Wahrnehmung einer jungen Ärztin, einer Erdheim der dritten Generation, gehört zu den stärksten Eindrücken von der Lektüre dieses Buches. Hinter Sozialismus und Austrofaschismus, Zionismus und Psychoanalyse, der brutalen Niederschlagung des Februar-Aufstandes von 1934 und dem Mord an Dollfuß lauert das braune Gespenst des Nationalsozialismus, das nach seiner Machtergreifung die größte Bedrohung für die Familiengeschichte darstellt. Die letzten in Drohobycz verbliebenen Mitglieder der Familie werden von der SS umgebracht, der rumänische Zweig stirbt in den Todeslagern Auschwitz und Mauthausen. In Wien geht das Leben weiter — die Ärztin bringt mitten im Krieg unter den schwierigsten Umständen eine Tochter zur Welt, eine Vertreterin der vierten Generation, die Verfasserin des Buchs, deren Vater ein antifaschistischer, nichtjüdischer Widerstandskämpfer ist. Das Buch endet mit einer Eheschließung, einem typischen Motiv der Familiensaga — kann diese die Kontinuität dieser Geschichte gewährleisten und damit die Tragik des Vorgefallenen, das „böse Ende“, von dem schon in der letzten Kapitelüberschrift die Rede war, überwinden? Die Antwort darauf muss wohl der Leser finden. Galizien ist heute keine Terra incognita mehr, ja im Gegenteil, es hat seit einigen Jahren beinahe Konjunktur. Vor allem Texte jüdischer Autoren, autobiographischer und fiktionaler Natur, von Soma Morgenstern, Salcia Landmann, Joseph Samuel Agnon u.a., blicken aus einer Perspektive nach dem Holocaust zuriick in die Welt ihrer Kindheit. Auch Drohobycz ist seit einigen Jahren in die Reihe der galizischen Erinnerungsorte aufgeriickt — Berichte von Überlebenden des Holocaust in deutscher, englischer, hebräischer und polnischer Sprache belegen das. Claudia Erdheims Buch lässt sich in diese Iradition einordnen und beweist die Relevanz von Erinnerung, die betroffen macht, auch wenn es sich nicht um die Geschichte der Familie dessen handelt, der dieses Buch liest. Im zweiten Teil meiner Laudatio möchte ich auf ein zweites Buch von Claudia Erdheim eingehen, das sich auf den ersten Blick völlig vom oben besprochenen unterscheidet und damit für eine andere Seite im Erzählen der Autorin steht; bei genauerem