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Hinsehen gibt es jedoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die einen Vergleich der beiden Werke nahelegen. Es erübrigt sich zu betonen, dass auch dieses Werk aufgrund seiner Qualitäten die Verleihung des genannten Preises in jedem Fall rechtfertigt. „Betty, Ida und die Gräfin. Die Geschichte einer Freundschaft“ (2013): Auf den ersten Blick ist das ein historisch-biographischer Roman, der das Leben und Miteinander dreier historisch belegter Personen rekonstruiert: der heute vergessenen Dichterin Betty Paoli, der noch weniger bekannten Ida Fleischl, Dame aus dem Wiener Großbürgertum, und der gut bekannten Schriftstellerin Marie v. Ebner-Eschenbach, geb. Gräfin Dubsky, deren literarische Karriere in diesem Buch ansatzweise rekonstruiert wird. Dabei ist schwer zu sagen, wer von den dreien im Mittelpunkt steht und die eigentliche Heldin ist: Betty, die Dichterin, Ida, in deren Haus sich alle Linien überkreuzen, oder Marie, die Schriftstellerin, die erst mit gewisser Verspätung zu den anderen beiden dazu stößt. Eher bilden alle drei einen Kreis von außergewöhnlichen Frauen, der im Zentrum der Handlung steht. Dieser Roman ist aber auch Familienroman, Familiensaga, die drei Generationen einer jüdischen Familie umfasst, und erinnert auch deshalb an „Längst nicht mehr koscher“. Im Mittelpunkt steht die Generation Idas und ihres Mannes Carl Fleischl, von deren Heirat 1845 bis nach dem Iod Carls nach 1890, in die auch die Geschichte der nächsten Generation, der vier Söhne, Ernst, Otto, Paul und Richard, eingefügt ist. Diese Familiengeschichte ist zugleich auch eine Geschichte des Verfalls: In der Generation der Söhne zerfällt die Familie von innen, ohne äußere Einbrüche, und kann ihre Funktion als schützender Hort nicht mehr wahren. Das wird dort ersichtlich, wo die Ehen nicht mehr funktionieren, geschieden oder gar nicht mehr eingegangen werden. Beim Abstieg einer noch vor kurzem so gefestigten und einflussreichen Familie denkt man an Thomas Manns Buddenbrooks; es gibt ein weiteres Moment in Claudia Erdheims Roman, das diesen Vergleich rechtfertigt: die zahlreichen Krankheiten, welche die Familiengeschichte durchziehen, gleich, ob es sich um Kinderkrankheiten oder Gebrechen alter Menschen handelt, oder aber um zunächst unterschätzte, dann lebensgefährliche Krankheiten, die zum Tod von Protagonisten führen. Diese Krankheiten liegen wie eine Last auf der ganzen Familie, nicht nur auf den Mitgliedern, die aktuell erkrankt sind. Mit dem Motiv der Krankheit kommt eine die Sprache des Romans prägende stilistische Schicht herein: die medizinische Fachsprache, die sich in Diagnose, Therapie und Medikation ebenso äußert wie in den Namen der behandelnden Ärzte, die durchwegs historisch belegt sind. Durch zahlreiche Kuraufenthalte wird die Familiengeschichte mit gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts verbunden und riickt der Roman in die Nahe des gesellschaftlichen Panoramas. Diese Kuren, denen sich die Protagonisten unterziehen, um wirkliche oder auch eingebildete Leiden zu heilen, erweitern auch die Geographie des Romans iiber das zentrale Wien hinaus, gleich, ob es sich um das nahe gelegene Baden handelt, das Salzkammergut mit Bad Ischl, Gmunden und St. Gilgen — hier kommt zur Kur die ebenso konventionelle Sommerfrische — oder die bbhmischen Bader wie Marien- und Franzensbad, Teplitz, bis zu entfernten Schweizer Luftkurorten und Ostseebädern. Überall werden mit viel Sachkenntnis komplizierte Therapien geschildert, die jedoch meistens die erwünschte Wirkung nicht bringen. Ein weiteres, das den Familienroman mit dem gesellschaftlichen Panorama verbindet, ist die Küche, die in diesem Text auch ein Indikator für die Abnahme des Jüdischen ist. Der Titel „Längst nicht mehr koscher“ würde auch auf die Familie Fleischl zutreffen. Das mit großer Raffinesse und gewaltigem Aufwand zubereitete Hochzeitsmahl von Carl und Ida scheint die letzte rein koschere Mahlzeit gewesen zu sein, die die Protagonisten eingenommen haben. Zurück in Wien besucht Carl regelmäßig das Kaffechaus mit seinen nicht koscheren Süßspeisen, und spätestens mit der Einstellung der böhmischen Köchin Kathi (mit ihrem „Bemakeln“ kommt eine weitere sprachlich-stilistische Nuance hinzu) löst eine ebenso opulente wie ausgesuchte Wiener Küche die jüdische ab. Andere Indikatoren für den Rückgang des Jüdischen finden sich dort, wo der Gymnasiast Ernst nicht mehr Hebräisch lernen will, Physik und Chemie sind ihm wichtiger. Der Großvater steht mit seinen Vorstellungen von der Bildung eines jüdischen Mannes auf verlorenem Boden, die Eltern nehmen eher für ihren Sohn als für den Vater Partei. Carl Fleischl, der als jüdischer Kaufmann am Beginn seiner Wiener Jahre noch ständig seine Aufenthaltsgenehmigung verlängern muss, wird gegen Ende seiner Tätigkeit für seine Verdienste um die Entwicklung der Pferde-Tramway in Wien geadelt, darf sich „von Marxow“ nennen. Zurück zum Roman als gesellschaftliches Panorama. Um die großbürgerliche Familie sind Vertreter des Adels angesiedelt, aber auch Menschen aus der Unterschicht — die böhmische Köchin und das Stubenmädel aus Osttirol gehören wesentlich zur Familie und haben deshalb ihren Platz auch in der Familiengeschichte. Vor allem aber ist das Theater der Ort, wo sich Kunst und gesellschaftliche Konvention die Hand reichen. Das „Hofburgtheater“ in der Zeit der Direktion Heinrich Laube, mit seinen Schauspielern und Leander Kaiser: Ländliche trees Volk / Village Scene, People rom the Past, ÖL, 135 x 180 cm, 2017 Einladung zur feierlichen Verleihung des THEODOR KRAMER PREISES FUR SCHREIBEN IM WIDERSTAND UND EXIL 2019 an CLAUDIA ERDHEIM und MARTIN POLLACK Freitag, 4. Oktober, 19 Uhr Pfarrsaal, Kirchenplatz 1, 2004 Niederhollabrunn Begrüßung: Bürgermeister Jürgen Duffek, Peter Roessler Laudationen: Alois Woldan und Bela Räsky iz Musik: Hans Tschiritsch und Thessa Rauba (noMaden im Speck) www.theodorkramer.at . \NIENS BunDesanzuenann Losterneich ene Oo Citing YK Gc Mn gt, 2482 Marz 2020 19