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hättest Du mit Deiner Polen-Expertise Mitglied der Redaktion sein sollen. Ja, „sein sollen“, denn ich glaubte mich zu erinnern, dass wir immer ein wenig betroffen waren, dass Du uns nur selten einen Artikel zur Lage in Polen nach dem Kriegsrecht 1981 geliefert hast. Wir — das meint das Sozialistische Osteuropakomitee und dessen Zeitschrift „gegenstimmen“, das zwischen 1980 und 1987 aus linker Position versuchte, der Opposition (unser Herz schlug für die linke, die es aber nicht wirklich gab) im kommunistischen Europa eine kleine Unterstützung zu geben. Natürlich habe ich alle alten Ausgaben zu Hause — und ich habe nachgeschaut. Ja, die Erinnerung trügt sogar einen Historiker, denn Du hast doch einige Beiträge für unsere vierteljährlich erscheinende Zeitschrift geschrieben — die einen, wenn auch nur einen kleinen Beitrag zum Wandel in Ostmitteleuropa geliefert hat. Und als ich heuer im Sommer in Breslau war, habe ich inmitten einer beeindruckend großen Ausstellung zur Geschichte von Solidarnosc am Stadtrand in einem chemaligen Busdepot im Abschnitt Internationale Solidarität auch ein ausgestelltes Exemplar der „gegenstimmen“ entdeckt. So fanden deine Polen-Beiträge doch eine Resonanz und sind mehr als dreißig Jahre später zudem noch dokumentiert. Man erinnert sich — sicher, sicher eine Marginalie in diesem großartigen Kapitel europäischer Geschichte: Die polnische Demokratisierung hast Du natürlich als Korrespondent des „Spiegels“ von 1987 bis 1998 weit mehr unterstützen können. Aber auch im Nachhinein: „Danke“, auch wenn wir uns — glaube ich — diese ostmitteleuropäische Zukunft anders vorgestellt haben, als sie sich heute präsentiert. Für das offizielle Polen bist Du ja wieder so etwas wie eine Persona non grata: Sei’s drum — oder darf man auch hier gratulieren? Doch zu Deinem Metier wurde der Journalismus, denke ich, nie. Ich behaupte einmal, dass es ‚nur‘ ein Brotberuf gewesen ist, wenn auch ein historisch wichtiger: Zur Finanzierung des Aufenthaltes im Wartesaal der Literatur. 2002 - schon wieder freiberuflich unterwegs - erschien ein Buch von Dir, das mich auch sehr beeinflusst hat — oder für mich im Späteren schr wichtig werden sollte: „Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann“. 1928 unternahm Halsmann, ein litauischer Staatsbürger, gemeinsam mit seinem Vater eine Bergwanderung in den Zillertaler Alpen. Dabei kam der Vater unter bis heute nicht geklärten Umständen ums Leben. Halsmann wurde des Mordes angeklagt und inmitten einer antisemitischen Kampagne von einem Innsbrucker Geschworenengericht zu zehn Jahren Kerkerhaft verurteilt, später begnadigt und des Landes verwiesen. Ich möchte jetzt hier gar nicht auf die vielen Implikationen dieses Falles, auf die vielen so wichtigen historischen Bezüge eingehen, eben nur darauf, warum dieser für mich so wichtig war: Weil ich damals zum ersten Mal mit Deiner Methode des Schreibens konfrontiert war, zum ersten Mal über die Schreibkunst oder -fertigkeit der Historiker reflektierte, mir überhaupt diese erzählerischen Defizite der Zunft auflielen (wobei ich glaube, ich damals noch durchaus auf jener Seite stand, die Deinen Stil etwas herablassend als „journalistisch“ beschrieben hätte). Das Buch blieb in meinem Gedächtnis: Ich habe dies Dir nie gesagt, nur immer daran gedacht, und wahrscheinlich ist es hier auch der falsche Ort, dies nachzuholen: Aber bei meiner Arbeit im Wien Museum 2009 für die Ausstellung Kampf um die Stadt habe ich in der Sammlung des Fotografen Albert Hilscher eine ganze Serie von Aufnahmen zu diesem Prozess gefunden. Mit der Hilfe des Wissens aus Deinem Buch und der Bilder konnten wir anhand dieses Falls den die Erste und zum Teil auch die Zweite Republik so prägenden Antisemitismus in der Ausstellung dokumentieren. Aber wahrscheinlich weißt Du 22 _ ZWISCHENWELT als gewissenhafter Rechercheur Deiner Themen sowieso Bescheid über diesen Fotoschatz. Apropos Foto: Viele Deiner Bücher erzählen ihre Geschichte ausgehend von Bildmaterial, aus zufälligen Fundstücken — auch ein Zug von Dir, der hier kurz angesprochen werden muss: Dass Du nämlich den Blick oft nach unten richtest, auf den Boden, um ja nichts zu übersehen — und dass sich so eine ansehnliche Sammlung von nennenswerten Objekten bei Dir angesammelt hat. Auch hier wieder nur eine Erinnerung von mir: Vor ein paar Jahren publizierte „Der Standard“ ein Fundstück von Dir, ein Fundstück, das nicht aus dem Blick nach unten resultierte, sondern — wenn ich mich recht erinnere — aus einer Recherche im Internet und das Du dem Bildarchiv der Nationalbibliothek vermacht hast. Es zeigt eine junge Frau im Pelzmantel bei einer dieser sogenannten Reibepartien im März 1938. Entsetzt, beschämt, empört blickt sie in die voyeuristische Kamera. Auch hier — obwohl schon im Wiesenthal-Institut tätig — machte erst Deine Erzählung, wie dieses Bild zu Dir gekommen war, aber vor allem die Bildbeschreibung, mir den Wert, die Bedeutung dieses einzigartigen Schnappschusses klar — als ein seltenes und einzigartiges Dokument dieses bösen Furors, der in jenen Tagen auf Wiens Straßen herrschte. Lieber Martin, wir müssen mit diesem Bild noch etwas machen, eine schöne Intervention im WiesenthalInstitut... wäre ein Iraum. In einem Interview hast Du gesagt, dass diese Geschichten, Deine Geschichten stellvertretend für viele andere erzählt werden müssen — und dass Du Deine Erzählungen brauchst, um Dich selbst zu begreifen, zu verstehen, wer Du bist. Ich kann nicht beurteilen, ob Dir für Dich selbst das auch gelungen ist oder gelingt. Als einer Deiner Leser kann ich Dir nur sagen, dass Du es fertigbringst, Geschichte als große Erzählung (die es sehr wohl gibt, auch wenn die Postmoderne das verleugnet) mir als Wissenschaftler und noch immer ein bisschen Forscher und Historiker, der sich tagtäglich mit diesen Fragen auseinandersetzt, nahe zu bringen, zu vermitteln, Zusammenhänge auf einer ganz anderen, aber zentralen und entscheidenden Ebene begreifbar, anschaulich zu machen — aus einer wissenschaftlichen Sprache in eine menschliche, lirerarische zu übersetzen. Dafür Danke. Zuletzt vielleicht noch etwas, was mir schwer fällt, weil ich nicht weiß, ob ich Dich nicht verletze. Aber ich habe bei einer sehr schönen Veranstaltung des Wiener Wiesenthal Instituts, die Du moderiert hast, miterleben können, wie offen Du mit Deiner Krankheit umgehst — und ich lese und höre das auch in den diversen Interviews, die Du in den letzten Monaten gewährt hast. Auch hier zolle ich Dir Bewunderung, weil man, denke ich, dafür sehr viel Kraft braucht. In diesem Sinn wünsche ich Dir das Allerbeste, und möchte Dir noch einmal ganz herzlich zu diesem Preis gratulieren. Bela Räsky, Historiker, ist seit Jänner 2010 Geschäftsführer des Wiener Wiesenthal Instituts fiir Holocaust-Studien (VWI). Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Mitarbeit an zahlreichen zeithistorischen Projekten und Ausstellungen, u.a. an der Ordnung der Nachlässe von Felix Hurdes, Emmerich Czermak, Vinzenz Schumy und Christian Broda, an der Aufarbeitung der Haltung der österreichischen Nationalräte zum Nationakozialismus, zahlreiche Übersetzungen historischer Werke aus dem Ungarischen, u.a. Istvan Bibos „Zur Judenfrage“. Mitgestalter der Ausstellungen „Die Kälte des Februar“, „3 Tage im Mai“, „Flucht nach Wien“, „Wien um 1930“.