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FORUM DER KRITIK Günther Anders Daß „Wahrheit ein Kulturwert“ sei— an dieser Behauptung wird wohl niemand Anstoß nehmen. Bei Rickert, dessen vor einem halben Jahrhundert geschriebene Wertphilosophie: „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“, obwohl hier in Amerika so gut wie unbekannt, doch indirekt (namentlich durch Münsterbergs Bücher [!] die Kulturphilosophie Amerikas geworden ist, und der den Ausdruck und die Theorie der „cultural values“ „geschaffen“ hat, kann man den Satz: „Wahrheit ist ein Kulturwert“ schwarz auf weiß lesen. Niemand nimmt daran Anstoß. Das ist der Skandal. Denn etwas als „Kulturwert“ ansprechen, heißt: es tolerieren, gleichgültig, ob man es für wahr hält — nein, es respektieren, nein, sich daran bereichern, obwohl man es vielleicht für falsch hält. Denn der Begriff „Kulturwert“ ist das schale Kind einer sehr guten Mutter: Es ist das Kind der Toleranz. Der Episkopalier respektiert den Talmud, dessen Wahrheit er bestreitet: Der Talmud wird zum Kulturwert. Der Baptist respektiert die Messe der Katholiken; ihre Wahrheit bestreitet er: die Messe wird zum Kulturwert. Der Katholik respektiert die Entwicklungslehre; aber ihre Wahrheit bestreitet er: die Entwicklungslehre wird zum Kulturwert. Kulturwert ist eine Position, die man sozial anerkennt, obwohl man sie als Position verwirft. Und da jeder Glaube des A der Kulturwert der B bis Z ist, lebt jedermann: A bis Z, in einer Welt von Kulturwerten, nämlich in einer Welt, die aus den Positionen der Anderen besteht, die er zugleich verwirft und respektiert. also in einer wahrheitsneutralen Welt. Das besagt ein Doppeltes: Erstens: Wahrheitsanspruch und Kultur schließen einander aus. Ich sage Wahrheitsanspruch. Denn dass die Vielheit der Positionen die Chance der Wahrheitsfindung ist, ist selbstverständlich zugestanden. — Die Neutralisierung besagt aber gleichzeitig noch etwas anderes: Sie wirkt als Boomerang: Ist jedermann umgeben von Positionen, die er nicht akzeptiert, aber respektiert, sieht jedermann sich schließlich selbst mit den Verstreutes In der Wiener Zeitschrift Addendum, Nr. 2/2019, wird die „Pilatus -Frage“ nach der Wahrheit gestellt. Die Wiener Philosophin und Autorin Lisz Hirn sucht sie zu beantworten: . würde ich sagen, dass wir ein moralisches Vorurteil gegenüber der Wahrheit haben, dass wir sie generell überschätzen, und zwar zuungunsten der Lüge, die wir ja als moralisch problematisch einstufen. [...] zu Unrecht insofern, als wir uns damit anmafsen, wir könnten die Wahrheit erkennen. Tatsächlich verwenden wir sie aber zur Etablierung von Herrschaftssytemen. [...] ... für mich geht es um den Begriff der Wahrhaftigkeit. Von einer bei PhilosophInnen ungewohnten Bescheidenheit zeugt die Abwesenheit des einen Gedankens: Dass speziell die Lüge auf die Wahrheit angewiesen ist, ihr Werk der Täuschung und Irreführung zu vollbringen. Wenn da keine Wahrheit wäre, würde Lügen nicht fruchten. Augen der Anderen: also geschicht es, dass jeder (der eine rascher, der andere langsamer) auch seine eigene Position so ansicht, wie die Anderen sie ansehen, wie sie „soziale Realität“ ist: also als neutrales Phänomen, als Kulturwert, den er zwar respektiert, dessen Wahrheit er aber nicht mehr für fundamental nimmt. Man könnte in der heutigen Welt, und nicht nur „gewissermaßen“, von Selbst-Toleration sprechen. — Oder es geschieht, daß man die „Wahrheit“ der „eigenen Position“ aus unwahrhaftigem Motiv verteidigt, nämlich nur deshalb, weil man, wenn man den Anspruch auf seine Wahrheit nicht geltend machte, sich freiwillig der Ehre seines eigenen Rechts begäbe... wenn der Ausdruck „eigene Position“ überhaupt haltbar ist, denn in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind ja z.B. religiöse „Positionen“ nicht gewähls, man gehört ihnen zu wie der Sprache, sie gehören einem nicht. Im Unterschiede zu den, nur als Ausnahmefälle interessanten, Konversionsfällen „hat“ man deshalb die Religion A nicht, weil sie einen von Geburt an „hat“; nicht weil man dies oder jenes glaubte, gehört man ihr an, sondern man „glaubt“ ihre Dogmen, weil man ihr zugehört. Aus den Manuskripten zu: Kulturphilosophie Ba. I, 1947; Original im Nachlass Günther Anders im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Signatur OLA 237/04. Anmerkung 1 Hugo Miinsterberg (1863 Danzig — 1916 Cambridge, Massachusetts) wirkte besonders durch seine Biicher The Eternal Values (1909, i.e. Philosophie der Werte. Leipzig: Barth 1908), Psychology and Industrial Efficiency (1913), Psychology and Social Sanity (1914). Ganz sorglos nimmt Hirn auch gleich (mit Foucault selbstredend) den Paradigmenwechsel vor: Dass Wahrheit verwendet werde, Herrschaftssysteme zu etablieren, und nicht vielmehr die Lüge strapaziert werden müsse, sie zu erhalten. Dass die Wahrheit das ist, was letztlich herauskommt, diese Hoffnung der Entrechteten und Gedemütigten, Gefolterten und Verfolgten, hier ist sie dahin. Und damit die Sache ganz klar ist, zitiert Lisz Hirn weiter unten den „schönen Satz“ von Friedrich Nietzsche: „Überzeugungen sind gefährlicher als Lügen.“ Leider lautet der Satz nur bei Hirn so, bei Nietzsche lautete er anders: „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen.“ Bei Nietzsche geht es also irgendwie noch um Wahrheit, bei Hirn irgendwie um die Vermeidung von Gefahr. Dafür hat sie ihr eigenes Rezept: „Die Täuschung wurde schon immer als etwas Lebensbewahrendes und Lebensbejahendes gesehen.“ Und die Wahrhaftigkeit? „O Falada, da du hangest...“ März 2020 23