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etwa der Ort Potocari mit seinen UNO-Baracken und dem späteren Großfriedhof vor. (Peter Handke hat später zugestanden, insgesamt sechsmal in Srebrenica gewesen zu sein, aber nicht viel mit den Leuten dort gesprochen zu haben.) « Zugleich richtet sich Handkes narrative Skepsis gegen OpferNarrative und berichtete serbische Selbstkritik, so z.B. jene Olgas (S. 121f., 178) oder des Mannes, der „kein Serbe mehr“ sein wollte (vgl. S. 234). * Auf der Mikroebene der Versprachlichung führt das zu relativierenden Formulierungen, die eine Modalisierung und Subjektivierung von schuldhaft empfundenen Ereignissen ausdriicken, z.B.: „Immer wieder sollen scharenweise Kadaver die Drina abwärts getrieben haben“ (S. 120) Oder: „Und sie war überzeugt, es sei wahr, daß dort bei Srebrenica im Sommer des Jahres 1995 die Tausende[ln] umgebracht worden seien.“ (S. 121) (Hervorhebungen C.R.) ¢ Eine weitere Strategie ist die Aufrechnung — denn die Relati vierung, ja Entschuldigung des Vélkermords setzt sich in Handkes Theorie fort, die er auch in spateren Paratexten, wie etwa in der Stiddeutschen Zeitung und der Zeitschrift Kerzerbriefe”, wiederholt hat: der Genozid von Srebrenica sei ein ,,Rachemassaker“ (S. 240) der Serben gegeniiber muslimischen Attacken auf serbische Dérfer aus der Enklave Srebrenica heraus gewesen. Auch hat sich Handke nie zu einer klaren Verurteilung des Genozids ohne Wenn und Aber durchringen können. Und zum Abschluss seiner sommerlichen Reise versteigt sich der Dichter in eine besonders problematische Formulierung seines Indianer-Diskurses: [...] kämpfen die Indianer nicht doch um ihre Freiheit? Und ‚allerletzte Frage‘: Wird man einmal, bald, wer?, die Serben von Bosnien auch als solche Indianer entdecken? (S. 250) « Somit stellt sich Handkes „Spiel vom Fragen“, das auch schon früher seine Poetik kennzeichnete, mitunter als rein rhetorisch heraus, und man muss sich angesichts merkwürdiger, ja verächtlicher Formulierungen in Bezug auf die bosnischen Muslime, die als „Muselmanen“” etc. bezeichnet werden, Fragen gefallen lassen, inwieweit dem Text nicht überhaupt eine unterschwellige, kleingeistige Islamophobie zugrunde liegt. Denkbar wäre hier, dass Handke hier einfach auch unkritisch Formulierungen und Denkstrukturen seiner serbischen ‚Informanten‘ reproduziert hat. Ich belasse es aus Zeitgründen bei diesen kurzen Beobachtungen und setze mit einem kleinen Quiz fort — wer schreibt hier im Folgenden über wen? Auf den Einwand, ob nicht gerade das gegen ihn in solch einem Amt sprechen könne, und eine Aufzählung einiger der Händel, in die der Bewerber verwickelt gewesen war, antwortete dieser, wie er es gewohnt war, mit den Formeln und Floskeln, die bei ihm, seit wann schon?, das Fleisch und das Blut ersetzten und sich zu einer menschenwürdigen Antwort verhielten wie das Knarren eines dürren Astes zu einem Schmerzens- oder Freudenlaut.”“ Ich liefere hier gleich mit dem Zitatende auch die Auflösung: es ist Peter Handke, der 1986 über Kurt Waldheim schreibt, jenen österreichischen Bundespräsidentschaftskandidaten, der sich nicht an seine Kriegsvergangenheit am Balkan erinnern wollte, geschweige denn irgendeine Form von Bedauern auszudrücken imstande war. Dies war doppelt bizarr, zum einen, da doch Waldheim später von einer internationalen Historikerkommission von jeglicher juristischer Schuld an deutschen Kriegsverbrechen freigesprochen wurde; zum anderen, dass er trotz massiver Bedenken seiner Person und seiner Haltung gegenüber von der Bevölkerung zum Präsidenten 26 _ ZWISCHENWELT gewählt wurde, nachdem seine Partei den berüchtigten Slogan „Jetzt erst recht“ für seine Kampagne formuliert hatte und damit negative Wahlkampfgeschichte schrieb.” Waldheim wurde damit ein nationales Symptom einer österreichischen „Unfähigkeit zu trauern“ — eine psychoanalytische Formulierung, die von Alexander und Margarete Mitscherlich zuerst für Nachkriegsdeutschland geprägt wurde: Das mangelnde Mitgefühl für die Opfer gründet ihnen zufolge auf einer ‚Entwirklichung‘ des Vorgefallenen, [dem] Versuch, sich der Nazivergangenheit durch Derealisierung, durch Rückzug der Objektlibido zu entledigen, und [den] Folgeerscheinungen dieser Gewaltmafnahme: Ich-Entleerung sowie sozialer und politischer Immobilismus.° Handke nimmt in seinem Werk wiederholt Bezug auf Waldheim; 1986 bezeichnet er ihn als „Lemuren, einen Wiedergänger aus Iranssylvanien“”, um dann in der Winterlichen Reise noch mit einer relativ sperrigen Passage nachzulegen: Wo war denn jene ‚Paranoia‘, der häufigste aller Vorbehalte gegen das Serbenvolk? Und wie stand es [...] mit dem Bewufstsein des deutschen (und österreichischen) Volkes von dem, was es im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan noch und noch angerichtet hat [...]? War es bloß ‚bekannt‘, oder auch wirklich gegenwärtig im allgemeinen Gedächtnis, ähnlich wie das, was mit den Juden geschah [!], oder auch bloß halb-so-gegenwärtig, wie es heute noch, quer durch die Generationen, den betroffenen Jugoslawen ist, die sich dafür von den Weltmedienverbänden einen Verfolgungswahn angedreht sehen müssen |...] es sei denn, es ginge zwischendurch um die auf einmal brandaktuellen, nachrichtendienstlichen Balkanverwicklungen des österreichischen Präsidentschaftskandidaten? War solch ein deutschösterreichisches blofses Bescheidwissen, aber Nicht-und-aber-nichtsgegenwärtig-haben denn nicht eine noch ganz andere Geistes- und Seelenkrankheit als die sogenannte Paranoia? Ein sehr eigener Wahn? (S. 154f.) Angesichts dieses Bogens, den Handke hier zu den Serben hin schlägt, nehme ich an, es ist auch verzeihlich, wenn ich gut dekonstruktivistisch die Worte Handkes zu Waldheim auf ihn selbst anwende und dabei Anleihen bei den Mitscherlichs nehme: Ist jene Derealisierung und der politische Immobilismus denn nicht auch charakteristisch für das Spätwerk des Laureaten selbst geworden? Ich möchte also abschließend die These formulieren, dass Handke jene Unfähigkeit Waldheims, die richtigen Worte zu finden, seit den 1990er Jahren selbst in Reinkultur verkörpert. Weiters behaupte ich, dass bei ihm Serbien zu einer Übertragungsneurose wird: Im verqueren und trotzigen Mäandern seiner Jugoslawientexte geht es implizit um die österreichische Vergangenheit. Die inkriminierten Texte werden somit zu einem Stellvertreterkrieg über die Nachkriegs-„Lebenslüge“ seiner österreichischen Heimat, die der frühe Handke zurecht moniert hat, während er sich im Alter weigert, eine andere Haltung als eine latent revisionistische einzunehmen. Sein trotziges Beharren, nicht weit über den Fluss Drina hinaus zu denken, ist verstörend und beleidigend für die Opfer aller Seiten im Jugoslawienkrieg. Die Versöhnung mit der Welt, die Handkes Poetik einmal versprochen hat, ist so im Frontalzusammenstoß mit Geschichte und Politik nicht zu leisten, sie wird vielmehr ein weiterer Ausdruck einer conditio Austriaca. Handke hat in seiner Nobelpreis-Rede, die alle jene vor den Kopf stieß, die gemäß dem Bibelwort „und sprich nur ein Wort/ so wird meine Seele gesund“ auf Klärung warteten, sie stattdessen mit eitlen Selbstzitaten abgespeist und einmal mehr seine sprachliche