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Nebelmaschine angeworfen. Dabei hätte er auch zitieren können, was er von Waldheim erträumte, nämlich dass dieser öffentlich „zur Wahrheit finden“ im Stande wäre und so eine Art nationaler Katharsis über Österreich bringen würde: Aus den Verstockten dort, den Ausredemeistern gleich ihm, den Verkehrern der Tatsachen, wurden Mitweinende, und diese erst, o Neuigkeit in dem seit mehr als einem halben Jahrhundert verdammten Staatsgebiet, durften ‚Volk‘ heißen. Solche Reinigung aber konnte, und das war die Erkenntnis des Träumers, kein Opfer bewirken, einzig ein trauernder Täter oder Zeuge.” Auf eine solche öffentliche Geste der Trauer und der Besinnung in Bezug auf Bosnien und Serbien freilich dürften wir bei Handke indes vergeblich warten. Und es ist bezeichnend, dass am Ende seiner Katharsis das „Volk“ steht, ein problematischer Begriff, der sich in seinem Spätwerk auffallend häuft. Ist Handke etwa ein völkischer Autor geworden? Damit endet auch mein Fragespiel. Clemens Ruthner, geb. 1964 in Wien, studierte Germanistik, Philosophie, Publizistik und ist Assistenzprofessor für Germanistik und Kulturwissenschaft am Trinity College Dublin. Er publizierte u.a. über den kolonialen Charakter der Habsburgermonarchie, BosnienHerzegowina und Österreich-Ungarn, die Werke Marlen Haushofers und Robert Musils... Anmerkungen 1 Der vorliegende Beitrag ist weitestgehend die schriftliche Fassung eines Vortrags, der am 17. Dezember 2020 an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo gehalten wurde. 2 Vgl. https://www.nobelprize.org/prizes/literature/ 3 Die Debatte hat auch in erschreckender Weise offenbart, dass es in der Sekundärliteratur kaum eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk des Autors gegeben hat; eher haften ihr apologetische, ja hagiografische — um nicht zu sagen: kirchliche Züge an. Eine löbliche Ausnahme ist Jürgen Brokoff, u.a. mit seinem Aufsatz: „Srebrenica — was für ein klangvolles Wort“. Zur Problematik der poetischen Sprache in Peter Handkes Texten zum Jugoslawien-Krieg. In: Störungen. Kriegsdiskurse in Literatur und Medien von 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Hg. v. Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 61-88. 4 Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1963. 5 Vgl. dazu etwa Martin Sexl: Literatur als Bildkritik. Peter Handke und die Jugoslawienkriege der 1990er-Jahre. In: Carsten Gandel (Hg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 89-106, hier S. 90ff. 6 Tilman Zülch (Hg.): Die Angst des Dichters vor der Wirklichkeit. 16 Antworten auf P. Handkes Winterreise nach Serbien. Göttingen: Steidl 1996; Thomas Deichmann (Hg.): Noch einmal für Jugoslawien: P Handke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, 5. Aufl. 2017. 7 Diese werden im Folgenden im Lauftext nach ihrer Neuausgabe zitiert: Peter Handke: Abschied des Träumers vom Neunten Land/ Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina/ Soemmerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise. Frankfurt/M: Suhrkamp 1998, 5. Aufl. 2019. 8 Ernst Jünger: Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern 1939 und 1940. Berlin: Mittler 1942, S. 120. 9 Vgl. dazu Peter Handke 1982: „Jemand wie Ernst Jünger hat sicher die Todesangst überwunden (d.h. ‚beschlossen, sich ihr nicht anheim zu geben‘); und was hat er damit gewonnen? Selbstgefälligkeit und Auserwähltheitsdünkel.“ (http://archiv.rhein-zeitung.de/on/98/02/17/topnews/juenger2.html) 10 Vgl. Jean Baudrillard: Simulacres et simulation. Paris: Ed. Galilée 1981. 11 Vgl. Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Übers. von Uli Twelker. Darmstadt: WBG 1999. 12 Vgl. Klaus Theweleit: Mannerphantasien. 2 Bde. EA Frankfurt/M.: Roter Stern 1977 (etliche Neuaufl.). 13 Vgl. dazu etwa folgende Aussagen über Slowenien: es sei „Sache nicht meines Besitzes, sondern meines Lebens“ (S. 7); „[elin ‚Slowene‘ jedoch wurde ich nie“ (S. 9). Vgl. auch W.G. Sebald: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. Frankfurt/M.: Fischer TB 1995, S. 162ff. 14 Möglicherweise gilt es hier auch einmal den Einfluss der WinnetouRomane Karl Mays und deren Verfilmungen zu untersuchen; letztere fanden ja in den 1960er Jahren im Hinterland der kroatischen Küste statt, mit etlichen Jugoslaw(inn)en als Komparsen. Vgl. Reinhard Weber: Die Karl May Filme. 3. Aufl. Landshut: Fachverl. für Filmliteratur 2018. 15 Vgl. dazu etwa grundlegend Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen: Leske + Budrich 1999. 16 Im Internet unter https://handkeonline.onb.ac.at/node/1550. 17 Wie z.B. mit dem 1997 in Deutschland verurteilten Novislav D###ajic, der sich an der ‚ethnischen Säuberung‘ in Foca 1992-94 beteiligt hat. In Handkes Stück „Fahrt im Einbaum“ fungiert er als Verkörperung des schuldlos Schuldigen. Handke ist auch als Trauzeuge dieses Kriegsverbrechers aufgetreten, vgl. https://www.zeit.de/1999/46/Trauzeuge_beim_Irrlaeufer. Ich verdanke diese Hinweise wie so Vieles meinem Gastgeber Prof. Vahidin Preljevic von der Univ. Sarajevo; vgl. auch seinen Essay Handkes Serbien, https://www.perlentaucher.de/essay/handkes-serbien.html 18 Marko Dinic: Die guten Tage. Roman. Wien: Zsolnay 2019, S. 53. 19 Vgl. etwa die Pressemitteilung der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ vom 15.10.2019, https://www.gfbv.de/de/news/literaturnobelpreis-fuerpeter-handke-9814/ 20 Schriftl. Mitteilung des Autors an den Verf. via Facebook-Messenger, 24.11.2019. 21 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957]. Übers. von Helmut Scheffel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1964, S. 130. 22 Vgl. Interview mit Peter Handke. In: Ketzerbriefe 169 (Sept./Okt. 2011), Handke-Interview-Brief-an-Handke-Ketzerbriefe-169-2011-Kopie.pdf; Peter Handke: Am Ende ist fast gar nichts mehr zu verstehen, In: SZ, 19.5.2010, hetps://www.sueddeutsche.de/kultur/peter-handke-am-ende-ist-fast-nichtsmehr-zu-verstehen-1.879352-0 ; vgl. auch https://www.suhrkamp.de/peterhandke-ibsen-preis/karl-ove-knausgard-zu-peter-handke_1243.html 23 In dieser altmodischen Bezeichnung für Muslime schwingt freilich auch die Konnotation mit, die sie in den NS-Konzentrationslagern annahm, wo sie tödlich erschöpfte Menschen, die keinen eigenen Willen mehr hatten, meinte (z.B. bei Primo Levi und Imre Kertesz): https://de.wikipedia.org/ wiki/Muselmann 24 Peter Handke: Vorwort. In: Gruppe „Neues Österreich“ (Hg.): Pflichterfüllung. Ein Bericht über Kurt Waldheim. Wien: Löcker 1986), S. 1. 25 Zu Waldheim vgl. erwa Gerhard Botz, Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, österreichische Identität, Waldheim und die Historiker. Frankfurt/M., New York: Campus 1994; G. Botz: Die „Waldheim-Affäre“ als Widerstreit kollektiver Erinnerungen. In: Barbara Töth, Hubertus Czernin (Hg.): 1986. Das Jahr, das Österreich veränderte. Wien: Czernin 2006, S. 74-95; Cornelius Lehngut: Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus. Frankfurt/M., New York: Campus 2013. 26 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens [1967]. München: Piper '?1991, S. 44. 27 Diese ursprünglich offenkundig im Nachrichtenmagazin „profil“ wiedergegebene Invektive wird etwa von Egyd Gstettner zitiert: In: Mein Leben als Hofnarr. Es ist verdammt hart, Egyd Gstettner zu sein. Wien: Picus 2019 (online). 28 Handke 1986: a.a.O. (s. Fußn. 24). März 2020 27