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Christian Angerer, Andreas Kranebitter Ambiguität der Nacht Der Name Jean Cayrol wird im deutschsprachigen Raum vor allem mit dem Film Nuit et brouillard/Nacht und Nebel (F 1955) assoziiert. Cayrol, Überlebender der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen, schrieb für diesen Film des Regisseurs Alain Resnais das Drehbuch, Hanns Eisler komponierte die Musik, Paul Celan besorgte die deutsche Übersetzung. Der Film, eine der weltweit ersten Darstellungen der Konzentrationslager und des Holocaust, erregte auch durch den Skandal seiner Rezeptionsgeschichte weithin Aufsehen - als er 1956 bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt werden sollte, intervenierte die Regierung der BRD erfolgreich, weil sie das Ansehen Deutschlands beschädigt sah.' Cayrols Werk blieb, sieht man von diesem Drehbuch ab, außerhalb Frankreichs weitgehend unbekannt. Eine besondere Rolle spielen darin Gedichte, deren Entstehungsgeschichte außergewöhnlich ist: Cayrol hatte sie heimlich, versteckt unter dem Tisch einer Produktionshalle, zwischen Februar 1944 und April 1945 im KZ Gusen verfasst. Der aus Bordeaux stammende französische Schriftsteller Jean Cayrol (1911 — 2005) war am 10. Juni 1942 — nach langer Tatigkeit für die katholische Widerstandsgruppe Confrerie NotreDame (CND)? — von der Sicherheitspolizei Paris verhaftet und am 27. März 1943 ins KZ Mauthausen deportiert worden.’ Cayrol war damit einer von Tausenden Deportierten, die nach dem berüchtigten, auf Hitler selbst zurückgehenden „Nacht-und-NebelErlass“ vom 7. Dezember 1941 ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Aufgrund dieses Erlasses deportierte die deutsche Justiz WiderstandskämpferInnen aus den besetzen Gebieten Westeuropas heimlich nach Deutschland und terrorisierte durch das spurlose Verschwindenlassen von Menschen gezielt die Zivilbevölkerung.‘ Im KZ Mauthausen wurde Jean Cayrol unter der Häftlingsnummer 25305 als „politischer Franzose“ registriert, von Beruf Bibliothekar, verhaftet wegen einer Tätigkeit für eine Spionageorganisation. Auf seiner sogenannten Haftlingspersonalkarte — einem jener zahlreichen, für jeden KZ-Häftling geführten Dokumente — notierte die SS seine „Personenbeschreibung“: „Grösse: 163 cm/ Gestalt: schwächlich/ Gesicht: oval/ Augen: grau/ Nase: normal/ Mund: normal/ Ohren: normal/ Zähne: gut/ Haare: dkl. blond/ Sprache: franz.-span.-engl./ Bes. Kennzeichen: keine“. Am 7. April 1943 überstellte man ihn in das seit 1940 bestehende Zweiglager Gusen, wo Cayrol sechs Monate lang als Hilfsarbeiter im Steinbruch arbeiten musste — in einem äußerst gefährlichen Arbeitskommando eines im Wortsinn tödlichen Lagers, in dem allein in diesen sechs Monaten mehr als 2000 Menschen starben. Völlig erschöpft erhielt er schließlich Hilfe durch den oberösterreichischen Priester Johann Gruber, der als Funktionshäftling im KZ Gusen ein Hilfsnetzwerk für Mithäftlinge aufgebaut hatte und vor allem für die Gruppe der Franzosen, zu der Jean Cayrol gehörte, zusätzliche Verpflegung organisierte.’ Gruber wurde 1944 in Gusen ermordet, Cayrol widmete ihm später den Gedichtband Poémes de la nuit et du brouillard.° Ab 24. November 1943 wurde Cayrol schließlich in einem Kommando der im KZ Gusen produzierenden Rüstungsindustrie, der Steyr-Daimler-Puch AG, eingesetzt; erst jetzt fand er die Möglichkeit, im Verborgenen Texte zu schreiben. Lange Zeit 28 — ZWISCHENWELT glaubte er sie nach dem Krieg verloren, bis sie ihm 1955 anonym aus Deutschland per Post zugesandt wurden. Cayrol veröffentlichte sie 1997 in einer Auswahl unter dem Titel Alerte aux ombres.’ Nun liegen die Texte unter dem Titel Schattenalarm erstmals in einer deutschen Übersetzung von Ulrike Julika Betz vor.® Schattenalarm strebt keine realistische Schilderung der Verhältnisse im Konzentrationslager an, sondern übersetzt Erfahrung in eine Art metaphysischer Poesie. Obwohl die Texte durchgehend in Versform abgefasst sind, wollte Jean Cayrol diese „Zeugnisse eines spirituellen Überlebenskampfes“ im Lager nicht als Gedichte bezeichnen.’ Wenn man das nach Monaten unterteilte Konvolut als Gesamtheit betrachtet, entwickelt es tatsächlich einen Rhythmus, der über die Grenzen der einzelnen Textabschnitte hinausgeht. Im Februar 1944 nimmt das Werk zunächst einen weit ausholenden epischen Atem auf, um Erinnertes in die Gegenwart zu rücken; mit Oktober 1944 beginnt eine Phase kürzerer lyrischer Bilder, meist in Strophenform zu gedichtartigen Einheiten gruppiert, die vorwiegend Gegenwärtiges festhalten; ab März 1945 dominieren wieder längere Verssequenzen, die in spiegelbildlicher Entsprechung zum Anfang zunehmend von Visionen des Kommenden sprechen. Nicht nur formal wird das Werk durch die Monate gegliedert, die Jahreszeiten sickern auch in die Bildsprache der jeweiligen Abschnitte ein und verweben sie mit der Zeit ihrer Entstehung: vom „Wind“ im Februar, „schüchtern die ausgestreckte Hand der neuen Jahreszeit“!°, über „zornige Blätter“, die im Oktober fallen!’, und ,,Nebellandschaft*! im November, iiber den „Schnee“, der im Winter „schwer“ „auf dem Grund unserer Herzen“ liegt'?, bis zur „ersten Knospe,/ so verschüchtert vor den jungen Bäumen/ die ungestüm erwachen“'“, im April. Innerhalb der Jahreszeiten folgt der Rhythmus der Texte wechselnden und wiederkehrenden Tageszeiten. Die Einheit des Ganzen wird aber vor allem getragen von einer durchgängigen Stimme mit ihrer poetischen Imagination. Sie nennt sich „ich“ oder „wir“, wendet sich fast immer an ein Gegenüber, in den Anfangs- und Schlusspassagen an die „Liebste“, dazwischen an ein namenloses „Du“, an „mein Kind“, an „Gott“ oder an die personifizierte „Nacht“; sie spricht hymnisch oder elegisch, selbstbewusst oder verzweifelt, immer emphatisch. In dieser Stimme und in den von ihr dialogisch erzeugten poetischen Resonanzräumen liegt die ganze Widerstandskraft des inmitten des KZ-Terrors schreibenden Jean Cayrol.” Die von dieser Stimme erschaffene, iiberaus bilderreiche Welt ist von radikaler Konzeption, weil sie aus realer Erfahrung universelle poetische Konsequenzen zieht. In sich stetig durch Wiederholung und Variation verdichtenden, häufig religiös konnotierten Metaphern werden elementare Fragen umkreist, Fragen nach der Möglichkeit des Menschseins in Erinnerung und Erwartung, nach der Möglichkeit der Liebe zum anderen, der Übereinstimmung mit sich selbst, des Aufgehobenseins in Natur und Kultur, der Beziehung zu Gott, der Hoffnung auf Erlösung aus Leiden und Tod. Zwar begegnen uns immer wieder metaphorisch kristallisierte Partikel der Lagerwelt, etwa wenn die „Nacht, härter als Granit“! nur als „gedämpfter Lärm der Katastrophe, stetes Murmeln/ der Angst“ erscheint”, wenn die