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Nacht „aus geweiteten Augen von Hunger und Kälte“ blickt'® und die Morgenröte „durch die verschwiegenen Augen der Ioten“ rennt'?, oder wenn die Liebste ermahnt wird, „andere sterben zu unseren Füßen,/ sieh nicht hin.“?° Doch diese „Realien“ bilden nur den Bodensatz der sich entfaltenden Bildwelten. Viel mehr als ihr Inhalt ist es der paradoxe poetische Stil der Bildsprache, der das Spezifische von Cayrols Texten ausmacht. Denn die Bedeutungen der wiederholten und gleichsam musikalisch variierten Sprachbilder geraten ins Gleiten, ändern sich gelegentlich von Vers zu Vers, manchmal von Strophe zu Strophe, oft von einem Abschnitt zum anderen; „Reich“, „Nacht“, „Morgen“, „Wind“, „Frucht“, „Vogel“, „Wald“, „Zweig“, „Schnee“, „Hand“, „Stille“ und zahlreiche verwandte Motive können mit Verheißung oder Bedrohung, mit Rettung oder Untergang, mit Leben oder Tod verbunden sein. Dadurch transponiert Cayrol die fortwährende Grenzerfahrung der KZ-Häftlinge, dass der Tod für die Lebenden in jeder Sekunde gegenwärtig war, in die poetische Maxime der Ambiguität alles Gesagten: „Cayrol verlegt die literarische Transmission des Erlittenen von der inhaltlichen auf die stilistische Ebene, d.h. von der Ebene der histoire auf die Ebene des discours, vom Dargestellten auf die (Art der) Darstellung selbst.“*! Sein Stil in Schattenalarm ist radikal, weil die Bedeutungen entgleiten, freilich ohne bei alledem indifferent zu sein. Cayrols christlich inspirierte Poesie beschreibt den Riss zwischen „Himmel“ und „Erde“, die klaffende „Wunde“ (drei häufige Wörter in den Texten) mit dem Ausblick auf Rettung und Heilung. Doch auch der am Schluss von Schattenalarm im Gespräch mit der „Liebsten“ beschworenen Hoffnung auf Erlösung bleibt die Ambivalenz eingeschrieben: „Der Engel ist noch nicht da.“ Mit der christlichen Prägung von Cayrols Vorstellungswelt hängt die hochgradige Intertextualität von Schattenalarm zusammen. Viele Stellen greifen Themen und Motive aus der Bibel auf”, zum Beispiel aus dem Hohelied („Liebste“, „Garten“) und aus der Genesis („Garten“, „Frucht“, „Schlange“). Darüber hinaus fließen Stoffe aus der griechischen Mythologie („Orpheus“) und aus der Marchentradition ein (Die Schöne und das Biest). In der Poetik der Verse klingen die französischen Symbolisten und Surrealisten nach. Cayrol schöpft aus seinem in Kopf und Herz gespeicherten kulturellen Schatz, um im Konzentrationslager identitätsrettende „Territorien des Selbst“ zu behaupten. Jean Caytol veröffentlichte seit 1928 Gedichte. Bilderreichtum, emphatische Naturmetaphern, mythologische Beziige und christliche Spiritualität formen sich bereits in dieser Friihphase aus.”” Mit der deutschen Besetzung Frankreichs und insbesondere wahrend Cayrols Haft in Fresnes bei Paris 1942/43, wo er weiterschrieb, laden sich die sprachlichen Bilder mit Konnotationen von Uberleben und Widerstand auf. In dieser Zeit, 1942, taucht erstmals in Cayrols Werk die biblische Figur des Lazarus auf”, den Jesus nach vier Tagen vom Tode auferweckt. 1950 entwickelte Cayrol aus diesem Sujet in einem grundlegenden Essay seinen Begriff einer „lazarenischen Literatur“.”*® Damit meint er eine Literatur von Überlebenden der nationalsozialistischen Lager, die nicht versucht, das in den Lagern Durchlittene darzustellen, sondern die Auswirkungen dieser Erfahrungen auf das Alltagsleben danach zu erfassen. Wie Lazarus sind die Überlebenden zwar von den Toten auferstanden, aber für immer vom Tod gezeichnet, hinausgeworfen aus Raum und Zeit. „[D]er lazarenische Held ist niemals dort, wo er sich befindet. [...] denn er hat in einer Welt gelebt, die sich nirgendwo befand und deren Grenzen nicht gezogen sind, da sie die Grenzen des Todes sind.“?” Die Betroffenen fühlen sich ohne Ausweg eingeschlossen in die „seltsamste Einsamkeit, die der Mensch hat ertragen können“.”” Markantes Merkmal ihrer Existenz ist die „Verdoppelung“: „Dieser Mensch lebt auf zwei ganz und gar verschiedenen und dennoch durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpften Ebenen, auf der Ebene des Schreckens und der Exaltation, auf der der Trunkenheit und des Abgekehrtseins.“?! Daher gibt es in der „lazarenischen Literatur“ zwei Seiten, „das Wunderbare oder das Märchenhafte“ auf der einen, die „Alltagswirklichkeit“ auf der anderen Seite — „aber, und das ist das Wesentliche, das Wunderbare oder das Märchenhafte ordnet sich das Reale unter*.*” Es zeigt sich, wie sehr das von Cayrol erst später ausgearbeitete Konzept der „lazarenischen Literatur“ bereits in Schattenalarm vorgebildet ist. Im Motiv des „Schattens“, das beginnend mit dem Titel den ganzen Text durchzieht und in unterschiedlichen Facetten auftritt, wird die „Verdoppelung des lazarenischen Daseins“ figuriert, durchaus in der Bedeutung eines von Raum und Zeit abgetrennten Schattendaseins, und die Unterordnung des „Realen“ unter das „Wunderbare“ benennt exakt das poetische Gesetz der Texte. Hier erschließt sich auch die Verbindung zum zweiten großen Essay Cayrols aus dem Jahr 1950, zu jenem über die „lazarenischen Träume“, der nun, in einem Band mit Schattenalarm, in einer neuen Übersetzung vorliegt.” Darin skizziert Jean Cayrol eine Psychologie der Träume im KZ. Er konstatiert eine „Aufspaltung“ im Ich des KZ-Häftlings. Während dieser versuchte, sich tagsüber der „grauenhaften Macht des Tages komplett zu verweigern“ und gleichsam als Schattenexistenz „abwesend“ zu sein“, schwelgte er in einer „Art spiritueller Trunkenheit“” und mit all seinem „Streben nach Liebe, nach Freiheit und nach Glück“ >® im nächtlichen „Exil“? seiner Traumbilder. Die „Nacht, härter als Granit“,* verwandelte sich so dank der Träume in einen ekstatischen Freiheitsraum des Gefangenen. Jean Cayrol, nach der Befreiung. Foto: Archives Jean Cayrol/Michel Pateau März 2020 29