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Der doppeldeutige Topos der „Nacht“ kehrt in den Erinnerungen zahlreicher KZ-Überlebender wieder. Mit dem Bild der Nacht wird, vordergründig, die plötzlich hereinbrechende kollektive wie individuelle Bedrohung bezeichnet. „Nacht über Deutschland“ nannte etwa Walter Adam, Offizier und Generalsekretär der austrofaschistischen Vaterländischen Front, der mit dem sogenannten „Prominententransport“ am 1. April 1938 ins KZ Dachau deportiert worden war, seine Erinnerungen an das KZ Dachau." In dieser ersten Lesart wird die von den Nationalsozialisten über Europa gebrachte Nacht zum Synonym für die gesamte KZErfahrung der Deportierten. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, der 1958 seinem auf Französisch erschienenen Roman den Titel La Nuit (Die Nacht) gab, schildert die KZ-Erfahrung darin als permanenten Ausnahmezustand der „letzten Nacht“. „Die letzte Nacht in Buna“, hielt er etwa bei der Räumung des KZ Auschwitz auf den Todesmärschen, die in die weiter westlich gelegenen Konzentrationslager geleitet wurden, fest: „Wieder einmal die letzte Nacht. Die letzte Nacht zu Hause, die letzte Nacht im Ghetto, die letzte Nacht im Viehwagen und nun die letzte Nacht in Buna. Wie lange würde unser Leben sich noch von einer ‚letzten Nacht‘ zur anderen schleppen?“ Die permanente „letzte“ Nacht steht bei Wiesel in einem Spannungsverhältnis zur „ersten“ Nacht im Konzentrationslager, jener Nacht der berüchtigten Einweisungsprozedur, die in der soziologischen KZ-Forschung als „Initiationsritus““? bezeichnet wird: „Nie werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat.““ Eine Empfangs-,,Zeremonie““ machte die Deportierten zu KZ-Häftlingen. In einem geregelten Ablauf, in dem sich Hektik und stundenlanges Warten abwechselten, wurden sie entkleidet und ihrer persönlichen Gegenstände entledigt, gewaschen und rasiert, in Uniformen gesteckt und bürokratisch „in den Stand“ der KZ-Häftlinge genommen, kategorisiert und nummeriert in einen eigens abgezäunten Quarantäneblock gesperrt. Diese Prozedur wurde von physischer Gewalt begleitet, in der es um nichts weniger als das „Vernichten eines Menschen““ ging, wie Primo Levi schrieb. Elie Cohen, Psychologe und KZ-Überlebender, war einer von vielen, die auf die Bedeutung von Gewalt und Schock bei der Ankunft im Lager verwiesen: „Das erste, das ich wahrnahm, war ein Häftling, der so gewaltsam von einem SS-Mann getreten und geschlagen wurde, dass er tot am Boden liegen gelassen wurde.“ Gewalterfahrungen prägten die Erinnerung an die ersten Stunden und Tage im Konzentrationslager. Die Situationen verdichteter struktureller und physischer Gewalterfahrungen zerschmetterten das „Weltvertrauen“ der Deportierten, so Jean Amery: „Der erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein, daß er hilflos ist — und damit enthält er alles Spätere schon im Keime. [...] Man darf mich mit der Faust ins Gesicht schlagen, fühlt in dumpfem Staunen das Opfer und schließt in ebenso dumpfer Gewifheit: Man wird mit mir anstellen, was man will. [...] Doch bin ich sicher, daß er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen.““® Resultat des gewaltsamen Aufeinanderprallens zwischen der bisherigen Welt und dem „konzentrationären Universum“ waren Unsicherheit und Ungewissheit, die Erfahrung der maximalen Fremdheit der Welt der Konzentrationslager, die keiner bekannten, noch so brutalen Institution mehr entsprach. Aus der alten Gesellschaft wurden die Deportierten, so Paul Neurath, in ein kaleidoskopartiges Sozialgefüge geworfen, „das alle Augenblicke 30 ZWISCHENWELT Form und Farbe wechselt. Der einzig stabile Teil des Bildes ist sein Rahmen — Betonmauer und Stacheldraht.“”° Das Hineingeworfensein in eine völlig neue und unbekannte Welt veränderte das Zeitgefühl der Inhaftierten. Für Wolfgang Sofsky besteht in der Verdichtung der Raum-Zeit-Matrix eine wesentliche Eigenschaft dieser Gesellschaft der Konzentrationslager. Die „absolute Macht“ der Konzentrationslager kappt „die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, sperrt die Menschen in einer ewigen Gegenwart ein.“*’ Raum und Zeit wurden zu einer gnadenlosen Gegenwart verdichtet, die Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen negierte. „Wir hatten“, so berichtete Primo Levi, „nicht nur unser Land und unsere Kultur, sondern auch unsere Familien, unsere Vergangenheit und die Zukunft vergessen, die wir uns ausgemalt hatten, weil wir, wie Tiere, auf den gegenwärtigen Augenblick beschränkt waren.“°? Für manchen Deportierten fungierte diese Reduktion auf die Gegenwart sogar als psychologischer Abwehrmechanismus, weil das Ausmalen einer fernen Zukunft wie auch die Erinnerung an die Vergangenheit geradezu existenzbedrohend erschienen. Der Schriftsteller Michel del Castillo drückte dies gerade in der Beschreibung der ersten Nacht aus, die sein autobiografisch gefärbter Protagonist Tanguy im Lager erlebt hatte: „Tanguy verbrachte seine erste Nacht weinend. Er hätte niemals für möglich gehalten, daß Erinnerungen weh tun können.“°’ Jean Cayrols Texte in Schattenalarm spiegeln diese Einsperrung in der ewigen Gegenwart des Lagers durch den Rhythmus der Verse, die im Winter 1944 geradezu stakkato-artig verknappt werden, um sich in ihrer Struktur und Bildersprache erst im Frühjahr 1945 wieder auszudehnen. Die Struktur der Gedichte entspricht hier einer Ausdehnung der Zeit angesichts der Befreiung, von der viele Überlebende berichteten: Es war für viele geradezu der Inbegriff der Befreiung, die verdichtete Raum-Zeit-Matrix der Konzentrationslager gesprengt zu haben. „Jetzt, da das Zeitgefühl zu mir zurückkehrte“, schrieb Roman Frister, „lernte ich von neuem, seinen Wert zu schätzen. Es gab wieder eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich hatte noch nicht gelernt, mit der Vergangenheit fertigzuwerden. Der Geschmack der Gegenwart war schal. Aber morgens, wenn ich auf dem Rücken im Bett lag und gegen die Decke starrte, machte ich Pläne für die Zukunft.“ Die Nacht war, so lässt sich die erste Bedeutung des Motivs zusammenfassen, Metapher für den Einlieferungsschock der Deportierten und zugleich das konkrete Ende der „Empfangszeremonie“: „Die erste Nacht war fürchterlich“. Nach dem Chaos und der Erniedrigung jedoch konnte mit dem Einbruch der Nacht die neue und unverständliche Situation nun erstmals ins Bewusstsein