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Im Topos der Nacht erfasst die KZ-Literatur also auf ambivalente Weise sowohl die Erfahrung extremer fremdbestimmter Entäußerung als auch das innere Reservoir der Widerstandskraft. Jean Cayrols Formen des Widerstands im Lager waren nachts der Traum und tags die Poesie: „Cayrol schrieb für seine Kameraden, nicht für künftige Leser. So wie seine Mithäftlinge ihre "Träume mit ihm teilten, teilte er mit ihnen seine Gedichte. Er wie sie waren davon überzeugt, dass die innere Welt, die sich im Traum kundtut, und die im Gedicht bewusst gestaltet wird, ein wirksames Gegengift gegen die tagtäglichen Erniedrigungen im Lager war.“’’ In den von ihm beschriebenen KZ-Träumen und in seinen im KZ Gusen heimlich verfassten Texten ordnet sich das „Reale“ dem „Wunderbaren“ oder „Märchenhaften“ unter. Von dieser Poetik aus betrachtet, erscheint es schlüssig, dass Cayrol seine KZ-Erfahrungen nie als autobiografisches Zeugnis dargestellt hat. Einmal allerdings bewegte er sich bis an die Grenze zur Zeugnisliteratur, eben als er für Alain Resnais‘ Dokumentarfilm Nuit et brouillard den Filmtext schrieb - er tat es offenbar widerwillig, „weil dieser Text, in dem das ‚Ich‘ in einem ‚On‘ aufgeht, derjenige Text in seinem Werk ist, der einem ‚Augenzeugenbericht‘ am nächsten kommt. “”® Gerade dieser Filmtext über das System der Konzentrationslager, kongenial übersetzt von Paul Celan, ist wohl das bekannteste Werk Jean Cayrols im deutschsprachigen Raum. In seinem Romanwerk hingegen folgt er den Prinzipien einer „lazarenischen Literatur“. Die Romane vermitteln die Lagererfahrung des Überlebenden, meist ohne sie direkt anzusprechen, sondern indem sie darauf verweisen durch „lazarenische Helden“, die vom Tod gezeichnet, in sich gespalten und unendlich einsam sind. Cayrol bedient sich „einer auf Analogien, impliziten wie auch expliziten Bezügen beruhenden Schreibweise, die sich offenbar von der (Ur-)Sache abwendet, um sie überhaupt sichtbar bzw. darstellbar werden zu lassen“.” Doch Cayrols Konzept einer „lazarenischen Literatur“ geht über die Darstellung von Nachwirkungen der KZ-Erfahrung hinaus. Was die Überlebenden in den Lagern erlitten, sieht er als extreme Steigerung einer „Entstellung des Menschen“, die als Signum einer ganzen „Epoche“ gilt": ein Gefühl der Leere, des Ersatzes, der Einsamkeit und der Zerrissenheit. Im Roman Lespace d’une nuit (1954) etwa, den Paul Celan unter dem Titel Im Bereich einer Nacht ins Deutsche übertrug, beschreibt Cayrol die „lazarenische“ Existenz seines Protagonisten ohne Bezug zu einer KZ-Erfahrung.®' Cayrol formuliert die fundamentale Entfremdung des modernen Menschen, die der Existentialismus in philosophische Kategorien fasst, aus dem Geist des Christentums: „Wir durchleben eine Epoche, die ich für vorübergehend halten möchte und die vornehmlich diese erschreckende Teilung des Menschen fördert, die Teilung in einen Himmel auf der einen und eine unannehmbare Erde auf der anderen Seite.“*” Er glaubt an die Erlösung, so fern sie auch sein mag, wenn sich der Mensch dieser Entfremdung stellt. Die Entfremdung mit phänomenologischer Genauigkeit und Unbestechlichkeit poetisch festzuhalten, darin liegt die große Aufgabe der „lazarenischen Literatur“. Mit Schattenalarm hat Jean Cayrol in der Extremsituation des Lagers eben dies versucht. Im Dezember 2019 erschien Jean Cayrol: Schattenalarm (19441945). Mit dem Essay „Lazarenische Träume“ als Band 3 der Reihe Mauthausen-Erinnerungen im Verlag new academic press. 32. ZWISCHENWELT Anmerkungen 1 Vgl. dazu ausführlich Ewout van der Knaap (2008): „Nacht und Nebel“. Gedächtnis des Holocaust und internationale Wirkungsgeschichte. Göttingen: Wallstein, sowie Martina Thiele (2007): Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film. Berlin: LIT Verlag, S. 165-204. 2 Vgl. dazu allgemein Michel Pateau (2012): Jean Cayrol. Une vie en poésie. Paris: Eds. du Seuil, hier S. 113f.; Ursula Henningfeld (2011): Nachwort, in: Jean Cayrol: Im Bereich einer Nacht. Frankfurt am Main: Schöflling & Co., S. 237-255, hier S. 238. 3 Die folgenden Angaben zu Cayrols Deportation ins KZ Mauthausen basieren auf der „Liste der Zugänge vom 27. März 1943/ 55 Häftlg.“ (KZGedenkstätte Mauthausen [fortan AMM] Y/50/01/08/124), dem „Zugangsbuch der Politischen Abteilung“ (AMM Y/36), der „Veränderungsmeldung für den 7. April 1943/ Abgang (überführt K.L. Gusen)“ (AMM 2.2.7.2.01.337) sowie zwei Versionen einer „Häftlingspersonalkarte“ Jean Cayrols (AMM FHPK). 4 Lothar Gruchmann (1981): „Nacht- und Nebel“-Justiz. Die Mitwirkung deutscher Strafgerichte an der Bekämpfung des Widerstandes in den besetzten westeuropäischen Ländern, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 29. Jahrgang, Heft 3, S. 342-396. 5 Vgl. Helmut Wagner (2011): Dr. Johann Gruber. Priester — Lehrer — Patriot (1889-1944). Nonkonformität und ihre Folgen in der Zeit des Nationalsozialismus. Linz: Wagner-Verlag, S. 300. 6 Vgl. Jean Cayrol (1946): Poémes de la nuit et du brouillard. Paris: Eds. du Seuil; Wagner: Johann Gruber, $. 360f. 7 Jean Cayrol (1997): Alerte aux ombres. 1944-1945. Paris: Eds. du Seuil. 8 Jean Cayrol (2019): Schattenalarm (1944-1945). Mit dem Essay „Lazarenische Träume“. Herausgegeben und übersetzt von Ulrike Julika Betz. Mauthausen-Erinnerungen, Band 3. Wien: new academic press. 9 Peter Kuon: „Doch der Schatten der Bestie ist zugleich die Nacht des Engels“. Jean Cayrols Überlebensdichtung, in: Cayrol: Schattenalarm, S. 110. 10 Cayrol: Schattenalarm, S. 29. 11 Ebd., S. 38. 12 Ebd., S. 41. 13 Ebd., S. 48. 14 Ebd., S. 76. 15 Vgl. Ethel Tolansky (2006): Jean Cayrol: Writing and Survival, in: Nicole Thatcher/Ethel Tolansky (Hg.): Six Authors in Captivity. Literary Responses to the Occupation of France during World War II. Bern u.a.: Peter Lang, S. 59-84, hier S. 75 und S. 80. 16 Cayrol: Schattenalarm, S. 27. 17 Ebd., S. 21. 18 Ebd., S. 68. 19 Ebd., S. 70. 20 Ebd., S. 79. 21 Katrin Hoffmann (2017): ,[E]t ma vie fait une grande tache/ noire/ sur la nappe“ — Uberleben schreiben in Jean Cayrols récits lazaréens, in: Silke Segler-Mefner (Hg.): Uberlebensgeschichten in den romanischen Erinnerungskulturen. Forschungsperspektiven. Berlin: Frank & Timme, S. 43-78, hier S. 49. 22 Cayrol: Schattenalarm, S. 81. 23 Vgl. auch Kuon: Nachwort, S. 111. 24 Maja Suderland (2004): Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das tägliche Überleben im Konzentrationslager. Frankfurt a. M./New York: Campus. 25 Vgl. Tolansky: Jean Cayrol, S. 60f. 26 Vgl. ebd., S. 62-72. 27 Vgl. ebd., S. 64f. 28 Jean Cayrol (1959): Lazarus unter uns. Stuttgart: Curt E. Schwab, S. 57-93. 29 Ebd., S. 89. 30 Ebd., S. 72. 31 Ebd., S. 69. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Cayrol: Lazarus unter uns, S. 13-56. 35 Vgl. Cayrol: Schattenalarm. 36 Jean Cayrol: Lazarenische Träume, in: Cayrol: Schattenalarm, S. 85-108. 37 Ebd., S. 89.