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wir erlebten die künstliche Entrüstung anderer Lemuren, die an die Luderplätze kamen, um das Verscharrte auszugraben und die verwesten Körper auszustellen, zu messen, zu zählen und abzubilden, wie es ihren Zwecken dienlich war. Sie spielten die Kläger nur, um daraus für sich das Recht zu niederer Rache abzuleiten“, etc. (S. 21) Meint Jünger vielleicht die Russen, die im Januar 1945 zwischen den Leichenbergen in Auschwitz standen und sich darüber künstlich entrüstet hätten? Meint er vielleicht die Kläger in den Nürnberger Prozessen? Streckenweise dient nahezu jeder Satz der Verschleierung: Subjekt der Täterschaft ist „das Schicksal“; der Hass und die Verfolgungen werden „der Zeit“ zugeschrieben; der Krieg war ein „Völkerringen“, bei dem „altbewährtem Waffenruhm“ in Fülle „neuer Lorbeer“ zugefügt wurde, ein Riesenkampf, in dem „jeder Gegner stolz auf den anderen sein kann“. (S. 13) „Die Jugend Europas und der Welt“ hat allerdings von dieser Friedensbotschaft Ernst Jüngers kaum Notiz genommen. Auch die Alliierten nicht, denn sie haben Jünger bis 1949 ein Publikationsverbot auferlegt. Der Waldeang lässt sich als eine Reaktion darauf lesen. Mythische Bilder und ontologische Gedankenergüsse bei der Gestaltung von Wald und Waldgänger vernebeln streckenweise die schr konkrete und zeitaktuelle Stoßrichtung des Textes. Er öffnet den Rahmen mit einem Wahlgang, dessen Ergebnis vorausbestimmt ist und vom erzählenden Ich als eine Falle durchschaut wird. Denn eine Wahl habe der Wahlgänger gar nicht, es werde ihm lediglich durch den Wahlzettel die Gelegenheit geboten, „sich an einem Beifall spendenden Akt zu beteiligen“. (S. 7) Das in der Diktatur übliche Plebiszit habe sich lediglich in die Formen der freien Wahl verkleidet. Mit dieser Erkenntnis ist der Wahlgänger schon unterwegs, Waldgänger zu werden. Sind die Wahlen im Dritten Reich oder in einer sozialistischen Volksdemokratie gemeint? Erst nach und nach schimmert hinter der mythisch-metaphysischen Bilderfassade durch, wem eigentlich der Widerstand des Waldgängers gegen Knechtschaft und Fremdherrschaft gilt: dem niedergeworfenen, zerstückelten, unter der Fuchtel der Entnazifizierung erniedrigten Nachkriegsdeutschland mit seiner von fremder Siegerhand oktroyierten parlamentarischen Demokratie. Und der Text schließt den Rahmen mit der Hoffnung „auf einen neuen Dietrich, einen neuen Augustus — auf einen neuen Fürsten, dessen Auftrag sich durch eine Konstellation am Himmel ankündet“. (S. 91) Im so abgesteckten Rahmen erfahren wir, was eigentlich den Waldgänger in den Wald trieb: „Es fiel dem Einzelnen daher schwer, zu begreifen, daß er nach dem Einzug der siegreichen Mächte für seinen mangelnden Widerstand nicht nur generell, als Kollektivschuldiger, sondern auch individuell belangt wurde - etwa dafür, daß er als Beamter oder Kapellmeister auch weiterhin seinen Beruf besorgt hatte.“ (S. 72) Es ist die durch die Alliierten zeitweise betriebene Entnazifizierung, die als Kränkung und Ächtung erfahren wird: „Der Waldgang folgte auf die Ächtung; durch ihn bekundete der Mann den Willen zur Behauptung aus eigener Kraft.“ (S. 40) Daher verlässt der Geächtete das Schiff des zeitlichen Seins und taucht in den Wald unter, der das überzeitliche Sein ist. (S. 39) Der Waldgänger besitzt nämlich ein ursprüngliches Verhältnis zur Freiheit (S. 28), er lässt sich durch keine Übermacht das Gesetz vorschreiben, weder propagandistisch noch durch Gewalt. (S. 38) Im Wald ist er zunächst einmal ein Schläfer: „Man kann sagen, daß der Mensch im Walde schläft. Im Augenblick, in dem er erwachend seine Macht erkennt, ist die Ordnung wieder hergestellt.“ (S. 35, Hervorhebung im Original) Als meinte man, um beim Mythos 38 _ ZWISCHENWELT zu bleiben, den Schlaf des Kaiser Barbarossa. Der Text lässt aber durchaus auch eine lebensweltliche Lektüre zu. Der Waldgänger scheint kein ontischer Schläfer zu sein, sondern einer in der heute aktuellen Bedeutung dieses Wortes: ein „Schläfer“, der als Partisan erwacht, um die Ordnung wieder herzustellen. Welche Ordnung? Von wohltuender Klarheit ist Jünger aber, wenn er die Art des Widerstandes darstellt. Am Anfang erinnert er an die Werwolfsart des Waldgängers, indem er im Bild von Hunden (Polizei) und Masse (Herde) erklärt, wieso die Polizei die Herde nicht voll kontrollieren kann: „denn es verbergen sich Wölfe in der grauen Herde, das heißt: Naturen, die noch wissen, was Freiheit ist. Und diese Wölfe sind nicht nur an sich stark, sondern es ist auch die Gefahr gegeben, daß sie ihre Eigenschaften auf die Masse übertragen, wenn ein böser Morgen dämmert, so dass die Herde zum Rudel wird.“ (S. 22) Ein Rudel von Werwölfen. Und am Ende zählt Jünger als erfahrener Wehrmachtsoffizier detailliert auf, wozu der Waldgänger als Partisan alles fähig ist: „Er führt den kleinen Krieg entlang der Schienenstränge und Nachschubstraßen, bedroht die Brücken, Kabel und Depots. Seinetwegen muss man Truppen zur Sicherung verzetteln, die Posten vervielfachen. Der Waldgänger besorgt die Ausspähung, die Sabotage, die Verbreitung von Nachrichten in der Bevölkerung. Er schlägt sich ins Unwegsame, ins Anonyme, um wieder zu erscheinen, wenn der Feind Zeichen von Schwäche zeigt.“ (S. 75) Was den Werwolfverbänden 1944-45 nicht gelang, soll nun der Waldgänger nachholen. Die Welt, wie er sie wahrnimmt, ist von neuen Leidensfiguren erfüllt: „Das sind die Vertriebenen, die Geächteten, die ihrer Heimat und Scholle Beraubten, die brutal in den untersten Abgrund gestoßenen. [...] Deutschland ist heute reich an Enterbten und Entrechteten; es ist an ihnen das reichste Land der Welt. [...] Nach seiner [des Deutschen, GC] Niederlage wurde die Absicht, ihn auf ewig zu entrechten, ihn zu versklaven, ihn durch Aufteilung zu vernichten, an ihm erprobt.“ (S. 86f.) Kaum sechs Jahre nach dem weitgehend gelungenen Unternehmen, die Juden Europas restlos auszurotten, verliert Ernst Jünger kein einziges Wort darüber. Was zählt, ist das den Deutschen zugefügte Leid infolge der „Katastrophe“ — so hat Jünger die militärische Niederlage des Dritten Reiches erfahren und so nennt er sie auch. Der Traum, diese Katastrophe rückgängig zu machen — wenig mehr bliebe übrig, wenn man den Essay aus seiner mythisch-ontologischen Verpackung herausschält. V Als Magna Charta des zivilen Ungehorsams und des Widerstands gegen den modernen Leviathan wurde Der Waldgang gepriesen. Der Essay biete einen Leitfaden für das physische und psychische Überleben im Zeitalter der Ideologien und der wachsenden Technokratie, er sei eine Widerstandsfibel gegen Totalitarismus und Anpassung, ein Brevier für den geistig-politischen Partisanen. Die Gestalt des Waldgängers zog in ihren Bann namhafte deutsche Intellektuelle sowohl nationalkonservativer als auch linksliberaler und sozialistischer Provenienz. In der Pattstellung des Kalten Krieges schien Der Waldgang dazu noch auf die Möglichkeit eines „dritten Weges“ zwischen den zwei Machtblöcken zu weisen, den Deutschland zur Wiederherstellung der nationalen Einheit und Souveränität beschreiten könnte”? — ein auch für manche Protagonisten der Studentenbewegung 1968 verlockender Gedanke. Nicht für Celan. Das prägnante Bild Ernst Jüngers von