OCR
nach Nordnorwegen, die aufgrund des militärischen Widerstands ermöglicht wurde, wir erfahren nichtsüber die Bildungeiner Exilregierungin London, und die für die Aufrechterhaltung des Widerstands in Norwegen so wichtige Verweigerung, die NS-Regierung unter dem Putschisten Quisling anzuerkennen, diesem Mitbegründer der Nasjonal Samling (NS), die 1936 bloß 2 Prozent der Stimmen erhielt und während der gesamten Besatzungszeit nicht über 40.000 Mitglieder hinauskam, nichts vom gewaltlosen Widerstand von 90 Prozent der LehrerInnen gegen die Nazifizierung der Schulen’ und der Selbsttötung von Einar Mus&us Hoigärd, der an der Spitze der illegalen LehrerInnenorganisation stand, um seine KollegInnen nicht unter der Folter zu verraten®, nichts vom Widerstand der Eltern, initiiert von den Schwestern Helga und Asta Stene, die 200.000 Protestbriefe sandten?, nichts über die Schließung der Universität Oslo durch Reichskommissar Terboven aufgrund der dort gescheiterten Nazifizierung'”, was wiederum den Widerstand unter den Studierenden verstärkte, nichts vom Widerstand in den Sportverbänden, nichts vom Widerstand innerhalb der Kirche, nichts vom Witz und der Konsequenz der NorwegerInnen: Als Zeichen des Widerstands trug man eine rote Mütze auf dem Kopf. Als das die Nazis verboten, klemmte man eine Büroklammer-eine norwegische Erfindung-ans Revers. Auch das wurde verboten. Ein norwegischer Bekannter erzählte mir, dass man in der Straßenbahn aufstand und den Platz in der Straßenbahn freigab, sobald ein Nazissie betrat. Das Hjemmefrontmuseum, das Museum des norwegischen Widerstands in Oslo, bestätigte: Die deutschen Behörden in Norwegen verboten, von seinem Platz in der Straßenbahn aufzustehen, wenn sich ein Deutscher neben einen setzte.'' Vielleicht, so fragte ich mich nach der Lektüre, ist der zivile Widerstand in Norwegen so bekannt, dass sich nicht mehr davon zu erzählen lohnt? Dem ist nicht so. Der zivile Widerstand ist „underkommunisert“, wird viel zu wenig vermittelt, sagt die pensionierte Lehrerin Aase R.D. Andreassen'?, die den britischen Regisseur Jon Seal für seinen Dokumentarfilm „Ihe Teachers‘ Protest. The Paper Clip Resistance“ beriet. 2019 hatte der Film Premiere — es war der erste Film über die Lereraksjon 1942. Der 2018 gegründete norwegische Verein „Den Glemte Historien“ (Die vergessene Geschichte) ersucht um Spenden für ein ähnliches Filmprojekt.'? Es war dieser ERFOLGREICHE zivile Widerstand gegen die Nazifizierung der Gesellschaft, den Roosevelt in einer Rede im Herbst 1942 ansprach: „Look to Norway. “'* Viel gäbe es zu erzählen. Verbindung mit den Leiden der Verfolgten? Stranger beschreibt die Flucht der Brüder Gerson und Jacob Komissar nach der Ermordung ihres Vaters. Der Autor begab sich im Vorfeld auf Lokalaugenschein der Fluchtroute mit einem „geschichtsinteressierten Freund“ (S. 102). Sodann fährter fort mit der Erzählung, wie sich die beiden Brüder Gerson und Jacob auf die Flucht nach Schweden begeben: Das ehemalige Kindermädchen der Brüder färbt ihnen die dunklen Haare, jetzt befällt Gerson für „einen Moment die Angst, dass sie ihn vielleicht küssen will, dass sie sich vorbeugt und seine Lippen auf seine drückt“ (S. 130). Das Ergebnis: orange Haare! Weiteres Ergebnis: Alle dreilachen. Doch: „Jetzt heißtes nurnoch, von hier wegzukommen. Wegvon Oslo, den Deutschen und dem Krieg.“ Doch die Zeit vergeht: „Mal istjemand verhaftet worden, mal wurde jemand aus der Widerstandsbewegung enttarnt.“ (S. 131) Dieser trivialisierende Stil zieht sich durch das gesamte Buch. Selbst wenn man die Schwierigkeiten mitbedenkt, die eine Übersetzung aus dem Norwegischen grundsätzlich mit sich bringt - der Wortschatz im Norwegischen ist geringer als im Deutschen, bei Übersetzungen ins Deutsche muss also nuanciert werden - und es der Übersetzung durchaus anzumerken ist, dass sie unter großem Zeitdruck fertiggestellt werden musste, so liegt dies 52 ZWISCHENWELT wohl nichtam Übersetzer. Esistnicht nur der Stil, esistdie Flapsigkeit in der Konstruktion des Romans, das fehlende Interesse für das CUI BONO des Faschismus und des Antifaschismus. Die Fluchtszene lässt keine Beklemmung aufkommen: Wir lesen „verschmitztes Lächeln“ und „Lachen“, etwa auf Seite 134, als beide KomisssarBrüder am Bahnsteig warten und die orangefarbenen Haarspitzen unter der Mütze hervorleuchten, da geht Jacob zur Lampe und dreht die Birne so lange, „bis sie [sic] ausgeht. Er schaut Gerson an, lächelt schelmisch in der Dunkelheit“. Während der Fahrt mitdem Lastwagen des Carl Fredriksens Transport „lächeln [sie] einanderan, brechen aber nicht in Jubel aus, noch nicht.“ (S. 136) Mit Hilfe des Carl Fredriksens Transport konnten im Winter 1942/1943 innerhalb von sechs Wochen zwischen Gründung und Verrat der Gruppe an die tausend Kinder, Frauen und Männer nach Schweden flüchten, knapp die Hälfte von ihnen Jüdinnen und Juden. Der Carl Fredriksen Transport war eine Fluchthelfergruppe, die von Rolf Syversen gegründet wurde, als ihn vier jüdische Brüder, die den Verhaftungen aller männlichen Juden am 26.10.1942 entgehen konnten, in seiner Gärtnerei in Olso um Hilfe baten. Gemeinsam mit dem Ehepaar Alf und Gerd Pettersen und mit Reidar Larsen organisierte er die umfangreichste Rettungsaktion in Norwegen unter dem internen Leitspruch Wir fahren für den König. Alle riskierten ihr Leben, nicht alle überlebten.'” Gerson und Jacob haben Glück: „[Gerson] schaut zu Jacob, der absolut lächerlich aussieht mit seinem orangefarbenen Haar voller Heu und der Mütze in der Hand. Gerson bricht in Lachen aus; genau wie der Pianist. [...] Jacob setzt einen Fuß über die unsichtbare Grenze und lächelt verschmitzt.“ [S. 141) Aus der Beschreibung könnte man schließen: Die Juden sind Flucht gewohnt. Bei Max Tau jedenfalls, jenem nach Norwegen und später nach Schweden geflüchteten deutschen jüdischen Verleger, Übersetzer, Autor und Begründer der „Friedensbücherei“, wird während der Fluchtszene in der Autobiographie „Trotz allem!“ weder gelacht noch verschmitztgelächelt, wiewohl ihn das Foto aufdem Buchcover tatsächlich verschmitzt lächelnd zeigt. Stranger hat zweifellos mehr über Henry Rinnan gelesen als von Exilierten. Aber nicht nur viel gelächelt wird, auch in sich geruht und über die Kindheit der Deutschen nachgedacht, selbst im SS Strafgefangenenlager Falstad, dem zweitgrößten Lager in Norwegen. Hirsch Komissar denkt, unter dem Buchstaben D: D wie der Durst der Wachleute im Gefangenenlager, wenn sie frei haben und der Alkohol ihre Zungen löst. Oft hört man ihr Lachen bis zu der Zelle, in der du liegst und dich an Szenen aus deiner Kindheit erinnerst, wo du im Bett lagst und den Erwachsenen zuhörtest, wenn deine Eltern Besuch hatten und ihre Stimmen sich veränderten, lauter wurden, fröhlicher. So ist es mit den deutschen Soldaten. Manchmal verstehst du die Pointe eines Witzes und beginnst selbst zu lächeln, beinahe unfreiwillig, bevor du dich wegdrehst und versuchst, im Schlaf zu verschwinden. (S. 63) Aber vielleicht spielt die Szene ja gar nicht in Falstad, sondern in einem anderen Lager, das lässt sich aufgrund der Assoziationen von A — Z schwer zuordnen. Folgende Szene jedenfalls spielt laut dem Autor in Falstad: „In Augenblicken wie diesen“, lässt Stranger Hirsch Komissar denken, „denkst du darüber nach, ob du vielleicht einen dieser jungen Männer [die einen Gefangenen, den „Bariton“ singen hießen] vor zehn Jahren in einer deutschen Stadt getroffen haben könntest. Da waren sie zehn, zwölf Jahre alt und liefen auf knochendürren Beinen durch die Straßen, mit ungelenken Armen und Augen, die vor Neugier und Freude glänzten. Vielleicht hast du einen der Wachleute angelächelt oder dich in einem Park kurz mit ihm unterhalten, als er noch klein war. Aber jetzt? Jetzt hat sie der Krieg in eine andere Form gepresst. (S. 37-38)