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Der Krieg? In eine andere Form gepresst? Falstad unterstand als „Polizeihäftlingslager“ einem Kommandeur der SIPO, der deutschen Sicherheitspolizei, und der SD, dem Sicherheitsdienst. In der Regel waren Wachleute im Lager keine einfachen Soldaten, sondern Freiwillige, jedenfalls bis zu Komissars Ermordung 1942. Aber der Autor gönnt sich nicht nur selbst freie Assoziationen, er gönnt sie auch Hirsch, zum Beispiel unter A: A wie die Assoziationen, die jederzeit aufdem Wegzur Zwangsarbeit, im Speisesaal oder draußen im Wald auftauchen konnten. [...] Der Anblick einer Wache, die den Kopf nach hinten legt und die Augen im Sonnenlicht zukneift, kann dich plötzlich in deine Studienjahre nach Deutschland zurückbringen, zu den überraschenden Glücksmomenten, wenn du eine Pause vom Lesesaal einlegtest und dich auf einer Bank nach hinten lehntest, in einem Land, das noch nicht von den Nazis übernommen worden war. (S. 17) Stranger stellt sich Hirsch also als jemanden vor, der „in sich ruht“, so wie er auch Julius Paltiel empfindet, einen norwegischen Überlebenden des KZ Auschwitz, über den er schreibt: „Er war kein verbitterter oder gebrochener Mann, der das Leben verfluchte, weil es so viele Schmerzen mit sich brachte, sondern ganz im Gegenteil ein Mensch, der bei allem, was er sagte oder tat, vollkommen in sich ruhte.“ (S. 86-87) Das Leben? Brachte denn „es“ alldieSchmerzen? Im Falstadskogen wurden 100 sowjetische Kriegsgefangene und 74 Partisanen ermordet. Die Täter waren die im KZ tätigen Nazis. Muss man sich angesichts der Versöhnlichkeit der inhaftierten, malträtierten Juden nicht fragen: Ja, so würden sich Nazis gerne selber schen, in jedem Nazi ein unschuldiges, unverstandenes Kind? Versöhnung? Unter welcher Prämisse? Etwaein Viertel der Juden, die sich bei Kriegsausbruch in Norwegen befanden, waren Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Sie kommen bei Stranger nicht vor, er konzentiert sich ganz auf die Familiengeschichte, die er individualisiert, versehen mit Allerweltsätzen wie „M wie das Monster, das in jedem von uns ruht“. (S. 192) Dadurch entsteht ein eigentümlich konträres Bild: Da der Underdog Rinnan, dort die erfolgreiche jüdische Familie Komissar. Nach der Kapitulation der Nazis wird das Bild zugespitzt: Auf Seite 330, und zwar UNMITTELBAR nach der Verhaftungsszene der gen Schweden geflüchteten Rinnan-Bande, porträtiert Stranger die jüdische Frau Ellen unter dem Buchstaben W so: „Diese Oberschichtstochter, die Zigaretten aus der Fabrik des Großvaters raucht und mit einem Lächeln über alles hinweggeht, was sie nicht beherrscht.“ Warum bricht der Autor dieses Gegensätzlichkeit (faschistischer) Underdog/ (jüdische) Oberschicht nicht auf? Zu den jüdischen Flüchtlingen in Trondheim zählten etwa die Kinder Veraund Tibor Taglicht aus Bratislava, über deren Schicksal der aus Mähren stammende Psychiater Leo Eitinger berichtete, der wie die Kinder mitder Nansenhilfe nach Norwegen flüchten konnte. Nach seiner Befreiung ging Leo Eitinger zurück nach Norwegen, spezialisierte sich auf die Psychiatrie nach Traumatisierungen und hatte wesentlichen Anteil an der Erforschung der Posttraumatischen Belastungsstörung. Vera und Tibor waren gemeinsam mit37 anderen jüdischen Kindern aus der Tschechoslowakei im Oktober 1939 in Norwegen angekommen. Eine jüdische Pflegefamilie in Trondheim nahm die Kinder auf. Zu dem Zeitpunkt zählte die Mosaische Glaubensgemeinschaft in Trondheim 260 Mitglieder.’® Am 26. November 1942, genau einen Monat nach den Deportationen der jüdischen Männer, begannen die Deportationen der jiidischen Frauen und Kinder in Norwegen. Vor Weihnachten 1942 sollten die Kinder mit Hilfe des Carl Fredrikens Transport nach Schweden fliichten, aufgrund der Aufdeckung der Fluchthelfergruppe wurden sie gefasst, am 3. Marz 1943 kamen sie in Auschwitz an. Leo Eitinger sah, dass der zwölfjährige Bub Tibor, der für den Arbeitseinsatz selektiert wurde, als er seine drei Jahre jüngere Schwester Vera bei den anderen Frauen, Kindern und Älteren alleine stehen sah, zu ihr ging, ihre Hand nahm und bei ihr blieb. Vera und Tibor wurden ermordet. Zwar lässt Stranger Ellen auf Seite 90 denken: „Man darf aufkeinen Fall nach den Kleinsten fragen, hat Ellen gelernt, niemals nach den Kindern fragen, nach den Zweijährigen oder Vierjährigen oder Siebenjährigen, denn auch sie sind verschwunden“, aber nach der Lektüre des Buches muss man feststellen: Es ist der Autor, der nicht fragt. Er fragt auch nicht nach den Kindern der von Rinnan und seiner Bande gefolterten, an die Gestapo ausgelieferten oder eigenhändig ermordeten widerständigen Väter und Mütter. Aber er lässt unsein an ihn gesandtes sms seiner jüdischen Frau Rikke lesen, unter dem Buchstabe V: „Wir leben in einer Welt der verbalen Auseinandersetzungen. Lass diesen Roman lieber eine Aufforderung sein, nach vornzusschen. Lass ihn lieber eine Möglichkeitzur Versöhnung sein und für Vergebung.“ (S. 320) Hier stellt sich die Frage: Unter welcher Prämisse? Gerson, der jüdische Überlebende und Ellens Gatte, wird als tatkräftiger Mann gezeichnet, der nach vorne schaut und kein Problem damit hat, mitseinerschwangeren Frau undeinem Kleinkind im ehemaligem Hauptquartier eines Nazikollaborateurszu wohnen. (Außer, dasseszurScheidungkommt.) Dem Autor entfährt zwar in einem gemeinsamen Interview mit seiner Schwiegermutter Grete Komissar zur Familiengeschichte der emotionale Ausbruch: „Arme Ellen!“ Wenn aber Ellen „arm“ war: Warum lesen wir nicht von VERDRANGUNG, vom Geschlechterverhältnis, von einem (Nicht-) Umgang mit Trauer, Trauma und Tod, der vielleicht auch etwas mit dem Patriarchat zu tun hat? Warum kratzt der Autor nicht an Gersons emotionaler Mauer? Stattdessen lässt er die im achten Monat schwangere Ellen, die auf dem Weg zu einer Familienfeier von einer Hitzewallung „befallen“ wird, denken: [..] sie darf nicht völlig durchgeschwitzt auf der Feier aufiauchen, denkt sie, aber die Angst macht es nur noch schlimmer, denn sie fühlt sich in ihrem eigenen Körper nicht mehr zu Hause. Sie fühlt sich nicht weiblich und attraktiv [...] ihre Arme und Beine sind so voller Wasser, dass sie wie Baumstämme aussehen. Was kann daran schon anziehend sein?, fragt sie sich. (S. 147) Wohlgemerkt; 1951 oder 1950-und da ward in Norwegen noch kein Öl gefunden und ist der Krieg gerade einmal sechs Jahre her. Angst vor fehlender Attraktivität statt Angst vor der Geburt? In „Vergesst unsere Namen nicht“ kommen keine Forderungen von Jüdinnen und Juden um Rückstellung vor, kein skandalöser Freispruch des Polizeichefs von Oslo, Knut Rad, mitverantwortlich für die Deportation der norwegischen Jiidinnen und Juden, kein Protest des jüdischen Überlebenden Bernhard Goldberg, der 1947 im Zuge der Landesverratsprozesse fragte: „Sind wir Juden weniger wert?“ Goldberg ist deram höchsten ausgezeichnete jüdische Kriegsveteran Norwegens-, der Autor stellt keinen Bezug zur ersten wissenschaftlichen Monografie über den Holocaust in Norwegen her, die erst 2015 erschien - der Autor Bjarte Bruland hat dazu einiges im Vorwort zu erzählen. Was wir lesen dürfen, sind individuelle Lebensweisheiten von Lillemor, eigentlich Esther Meyer Komissar, der Schwestervon Gerson und Jacob. Der Autor besucht sie gemeinsam mit seiner Frau in Schweden, wo sie hochbetagt lebt. Rikke fragt, „wie Ellen und Gerson es geschafft hatten, nach dem Krieg das Haus von Rinnan zu kaufen. Lillemor schaute einen Augenblick auf ihre Hände und rieb sich die Finger, bevor sie so tat, als würde sie unsichtbare Kleidung ablegen: ‚Man zieht seine Gefühle aus‘, [...] ‚Das muss sein.‘ [...]“ (S. 184) Stranger argumentiert damit Verdrängung in der Person einer alten jüdischen Frau. Es sind Stellen wie diese, die die Frage aufwerfen: Was folgt daraus? Was kommt, wenn wir die „Gefühle“ ausgezogen haben? Stranger lässt auf den Seiten 265 und 266 seine Frau Rikke über ihren Großvater erzählen: „Ich erinnere mich, März 2020 53