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Nadja Strasser (1871 — 1955) wuchs als Neoma Ramm als drittältestes von acht Geschwistern in der russischen Kleinstadt Starodub im Westen Rußlands auf. In Starodub lebten Anfang des 20. Jahrhunderts rund 5.000 Juden und Jüdinnen, von insgesamt 12.000 Einwohnern. Die Familie war streng religiös. Ihre Kindheit war von Pogromen geprägt. Neoma Ramm begeisterte sich in Starodub anfangs für den Zionismus, bald auch für die Narodniki. Da ihre ältere Schwester Bella als Zahnärztin in Warschau lebte, ging Neoma Ramm zuerst in die polnische Hauptstadt, wo sie sich für den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund („Bund“) begeisterte. Nachdem Neoma Ramm in Russland als Externistin maturiert hatte versuchte sie an der Hochschule fiir Frauen in St. Petersburg Aufnahme zu finden, wurde jedoch als Jiidin abgewiesen. Sie wurde aber von ihrem ältesten Bruder unterstützt, der ihr das Geld gab, das eigentlich für ihre Mitgift gedacht war. So ging sie 1896 nach Wien, wo siesich 1899 an der Universitat immatrikulierte. In Wien lernte sie den nichtjiidischen sozialdemokratischen Politiker Josef Strasser (1870 — 1935) kennen, den sie heiratete. 1901 ging sie mit ihrem Ehemann und Sohn Alex nach Reichenberg (Liberec) in Böhmen, da Josef Strasser Redakteur der Zeitschrift Freigeist wurde. 1906 wurde die Ehe geschieden. Alex Strasser (1898 — 1974) wurde Filmemacher; er lebte ab 1934 in London und drehte zahlreiche Experimental- und Kurzfilme. Josef Strasser heiratete 1912 die Schriftstellerin Isadore von Schwartzkoppen. 1913 iibersiedelte das Paar nach Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg schlossen sich beide der KPO an. Isa Strasser (1891 — 1970) war Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller und ließ sich 1938 auch als Krankenschwester ausbilden. In den offiziellen Lebensbeschreibungen Josef Strassers (in Wikipedia, abgerufen am 11.8.2019, und im Eintrag des Österreichischen Biographischen Lexikons, verfasst von Theodor Venus), kommt seine erste Ehe nicht vor. Josef und Isas Sohn Peter Strasser (1917 — 1962) war Vorsitzender der Sozialistischen Jugend Osterreichs, der International Union of Socialist Youth und Nationalratsabgeordneter. Léon Poliakov (1910 — 1997) wuchs bis zur Flucht der Familie nach Frankreich in St. Petersburg auf. Sein Vater entstammte einer armen jüdischen Familie aus der Krim. Mit 22 Jahren eröffnete er in Odessa eine Apotheke. Die Ehe seiner Eltern bezeichnete Leon Poliakov als „Vernunftehe“. Einige Jahre später wurde Wladimir Poliakov (1864 - 1938) wohlhabend; er wohnte in St. Petersburg, gründete eine „internationale Handelsgesellschaft, eine Werbeagentur“ und besaß vier Tageszeitungen. 1920 flüchtete die Familie aus Odessa, wohin sie zurückgekehrt war, über Italien nach Frankreich; von 1921 bis 1924 lebte sie in Deutschland. Beeinflusst wurde Léon Poliakov dagegen von dem aus Lettland stammenden Philosophen Jacob Gordin (1896 — 1947). Auch mit einem anderen Schiiler Gordins, Emmanuel Levinas, war Poliakov befreundet. Annette Wieviorka Carstiuc beschreibt in ihrem Vorwort Poliakov als einen Angehörigen von drei Kulturen, der französischen, der deutschen und der russischen, und betont, dass er keine jüdische Erziehung erhielt und keine Bar Mizwa feierte. Er selbst erinnert sich an den Weihnachtsbaum und daran, dass seine Eltern einmal im Jahr in die Synagoge gingen. An einer anderen Stelle erwähnt er aber seine „Verehrung alles Jüdischen“ und beantwortet die Frage, woher diese kam: „Die Assimilation, und nur sie, befördert diese Art der Umnachtung. Es ist allerdings möglich, dass ich zuhause Äußerungen über die Intelligenz und den Tatendrang der Juden gehört und daraus größenwahnsinnige Schlüsse gezogen hatte.“ Leon Poliakov studierte Jus in Paris und arbeitete gleichzeitig in der väterlichen Werbeagentur Merzel. 1933 finanzierte Wladimir Poliakov mit Isaak Grodzenski, dem Herausgeber des Pariser Haynt, das Pariser Tageblatt, dessen Chefredakteur war Georg Bernhard, der frühere Chefredakteur der Vossischen Zeitung. Die Idee dafür kam von L£on Poliakov, der auch Mitgeschäftsführer der Zeitung wurde. 1936 kam es zu einem von kommunistischer Seite um Willi Münzenberg angezettelten Putsch gegen den Herausgeber und zur Neugründung als Pariser Tageszeitung, die bis 1940 erschien. Über die Geschichte der beiden Zeitungen veröffentlichte Walter E Peterson 1987 eine Studie. Über die inhaltlichen Aspekte der Zeitungen erschien 2002 das von Helene Roussel und Lutz Winckler herausgegebene Buch Rechts und links der Seine. Leon Poliakov trat 1939 in die französische Armee ein und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er konnte flüchten und arbeitete bis 1942 in Marseille als Sekretär der „Vereinigung praktizierender Israeliten“ von Rabbiner Salman Schneerson, den er von der Beerdigung seines Vaters 1939 her kannte. In Nizza schloss er sich der Resistance an und arbeitete in der Fluchthilfe für die von Joseph Bass geleiteten „Gruppe André“, Er arbeitete auch in einer Papierfabrik in der Region St. Etienne und organisierte Verstecke für jüdische Kinder. Ein entfernter Cousin des Rabbiners, Isaac Schneerson (1881 — 1969) gründete 1943 in Grenoble das „Centre de Documentation Juive Contemporaine“, das 1945 nach Paris übersiedelte und dessen Forschungsabteilung Poliakov bis 1953 leitete. 1945/46 nahm er als Berater und Dolmetscher des französischen Delegationsleiters Edgar Faure am Nürnberger Prozess teil. 1917 publizierte Nadja Strasser im S. Fischer Verlag das Buch Die Russin. Charakterbilder, in dem sie sieben historische russische Frauen, unter ihnen die Ehefrau von Alexander Herzen und die Revolutionärin Wera Figner, porträtiert. 1919 folgte, ebenfalls bei S. Fischer, das feministische Buch Das Ergebnis. Lyrische Essays. Leider enden Strassers Erinnerungen mit ihrer Zeit in Warschau. Das Typoskript wurde von ihrer Urenkelin Jodi Canti im Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam deponiert. Die Herausgeberin Birgit Schmidt hat an der Universität Freiburg im Breisgau promoviert und arbeitet als Lehrerin in Brandenburg. Sie hat eine ausführliche, kompetente Einleitung mit einigen Illustrationen verfasst. E.A. Nadja Strasser: Von Etappe zu Etappe. Die Jugend einer jüdischen Sozialistin im Schtetl (1871-1896). Eine Autobiographie. Hg. und kommentiert von Birgit Schmidt. (Lebenswelten osteuropäischer Juden, Band 18). Köln: Böhlau Verlag 2019. 191 S. €42Ab 1977 erschien im Verlag Georg Heintz in Worms Poliakovs achtbandige Geschichte des Antisemitismus. Die Originalausgabe in sieben Banden kam von 1955 bis 1983 im Verlag Calmann-Lévy in Paris heraus. Ins Deutsche iibertragen wurde das Werk von dem evangelischen Theologen und Oberpfarrer von Schwabisch-Hall RudolfPfisterer (1914 - 2005). Dieser hatte sich in vielen Publikationen mit dem christlich-jüdischen Dialog befasst und wurde 1963 mit dem Ehrendoktorat der Universität Paris ausgezeichnet. Mit Joseph Wulf (1912 - 1974) gab Poliakov die Dokumentationen Das Dritte Reich und seine Diener, Das Dritte Reich und seine Denkerund Das Dritte Reich und die Juden heraus. 1992 erschien sein Buch Vom Antizionismus zum Antisemitismus mit einem Vorwort von Detlev Claussen. 1989 wurde Poliakov als Ritter der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet. — Mit den Erinnerungen dieses großen Historikers hat die Edition Tiamat den deutschsprachigen Lesern ein wichtiges Kapitel französischer Zeitgeschichte nahegebracht. Die Übersetzung wurde von der Fondation pour la Mémoire de la Shoah in Paris gefördert. E.A. Leon Poliakov: St. Petersburg — Berlin — Paris. Memoiren eines Davongekommenen. Mit einem Vorwort von Annette Wieviorka. Aus dem Französischen von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alexander Carstiuc. Hg. und mit einem Nachwort von Alexander Carstiuc. Berlin: Edition Tiamat 2019. 287 S. € 24,März 2020 75