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Christine Schörkhuber Idomeni - ein Rückblick. Prolog Ich war 2015 und 2016 mehrmals in Idomeni, einem inofhziellen Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze. Seltsam nun, hier im Home-oflice 2020 meine Erfahrungsberichte von damals zu einem druckfähigen Text zusammenzufassen. Idomeni ist Geschichte, das Thema ist es nicht. Auf den griechischen Inseln stecken derzeit 40.000 Menschen fest, in Lagern mit teilweise noch bedriickenderen Situationen als hier geschildert. Europa, wenn es dich noch irgendwo gibt: Handle! Mein erster Besuch im Lager Idomeni begann mit seinem vorläufigen Ende. Einen Tag nach unserer Ankunft wurde es zum ersten Mal geräumt. Damals, Anfang Dezember 2015, machten wir uns mit einer kleinen Gruppe und zwei Bussen auf den Weg, um Hilfsgüter auf die griechischen Inseln zu bringen und dort mitzuarbeiten. Als wir die Schreckensmeldungen von den Zuständen in dem gerade entstehenden Hotspot Idomeni hörten, änderten wir spontan unsere Pläne und fuhren an die griechisch-mazedonische Grenze. Idomeni, das ist ein kleines Dorf mit ca. 300 Einwohnern direkt im Grenzgebiet. Es ist der erste Bahnhof der paneuropäischen Eisenbahn auf griechischem Boden und liegt damit an einer der wichtigsten Gütertransferstrecken. Viel zu exportieren hatte Griechenland allerdings nicht dieser Tage — und seit Beginn der großen Flüchtlingsbewegung war diese Strecke ohnehin meist blockiert gewesen. Hier waren bereits Tausende Leute durchgekommen, und ein Auffanglager für 1500 Personen hatte sich gebildet. Zunächst waren sie nur im Transit, doch das änderte sich, als Mazedonien einen Grenzzaun errichtet hatte und nur noch SyrerInnen, Afghanis und IrakerInnen durchreisen ließ. Idyllisch war es hier. Eine weite Ebene, vor der sich in der Ferne die Hügelketten abzeichneten. Die beige-braunen Erdtöne der Landschaft fanden sich auch in der Camouflage der Wasserwerfer, Panzer und bewaffneten Soldaten der mazedonischen Grenzwache wieder. Scharfkantig glitzernd zeichnete sich der meterhohe Natodraht vor der Landschaftskulisse ab. Uns wurde unheimlich. Wenigstens fängt er den Müll ab, meinte eine Mitreisende mit Galgenhumor. Es gab mittlerweile medizinische Versorgung durch Hilfsorganisationen, einige von Freiwilligen betriebene Küchen, Feuerholzdepots und einige einigermaßen beheizbare Familienzelte der UNHCR. Doch bei Temperaturen um null Grad mit einer Garnitur Mindestbekleidung ohne Duschen, brauchbare Toiletten und Informationen im Nichts zu verharren, stundenlang um Essen anzustehen und in Zelten oder gar im Freien schlafen zu müssen, ist entsetzlich genug. Am nächsten Morgen nach unserer Ankunft wurden wir informiert, dass Idomeni noch am selben Tag geräumt werden würde. Im Wesentlichen ging diese Räumung friedlich vonstatten. Die Gefahr von Aufständen und Randalen durch Abgewiesene lag in der Luft, doch die Lage eskalierte nicht. Die griechische Polizei und das Sondereinsatzkommando verhielten sich damals noch sehr organisiert und diplomatisch. Journalisten wurden vom Schauplatz ferngehalten, indem sie sich auf der Polizeistation bei Kaffee und Kuchen die Anekdoten der örtlichen Gendarmen anhören mussten. Syrische, afghanische und irakische StaatsbürgerInnen wurden über die Balkanroute nach Mitteleuropa weitergelassen. Die anderen Flüchtlinge wurden in Bussen nach Athen und an andere Orte gebracht. Was dort mit ihnen geschah, weiß niemand so genau. Einige haben wir später wiedergetroffen — außerhalb des Systems, auf den Straßen. Ein großer Teil der Flüchtlinge, die sich damals in Idomeni eingefunden hatten, waren junge Männer aus dem Iran, Pakistan, Marokko und Somalia. Für sie gab es praktisch keine Chance auf Asyl oder einen anderen Aufenthaltsstatus im europäischen Raum. Diese jungen Männer ließen sich durch Gesetze nicht mehr sonderlich abschrecken - sie waren ohnehin schon lange zuvor kriminalisiert worden. Idomeni hieß für sie tatsächlich: Endstation Sehnsucht, und das Bild der jungen, wilden Burschen aus dem Nahen Osten, die nichts mehr zu verlieren haben, wurde zur selffulfilling Prophecy. Der Effekt der Räumung hielt nicht lang an: In den darauffolgenden Monaten hatte sich Idomeni wieder gefüllt, und es waren mehr Menschen denn je. Als wir im Jänner 2016 zum zweiten Mal in Idomeni ankamen, sah es ganz anders aus als beim ersten Besuch. Der Radius des Lagers hatte sich gewaltig erweitert, viel mehr Menschen, mehr Strukturen und gleichzeitig mehr Chaos. Diesmal sind es kaum junge Männer, sondern Familien, Kleinkinder, allein reisende Frauen, Kranke und Behinderte. Immer noch menschenunwürdige Unterbringungen, Zelte im Schlamm, stundenlanges Anstehen, um Essen zu bekommen. Kaum Informationen, wie es weitergeht, keine solide Rechtsberatung. Aber immer noch große Hoffnung: 200 syrische, afghanische und irakische StaatsbürgerInnen pro Tag konnten die Grenze passieren. Sie standen stundenlang an in der Hoffnung, endlich September 2020 7