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in ein neues Leben zukommen. Die meisten wussten nicht, dass ihnen diese Situation noch etliche weitere Male bevorstehen würde - zum Glück. Keine Entschuldigung gab und gibt es dafür, diese Menschen unter solchen Umständen vegetieren zu lassen. Mit dem Direkthilfe-Projekt der Volkshilfe, dessen Koordination ich übernahm, konnten wir in diesen Monaten Lebensmittel und Töpfe, Holzböden für 200 Zelte und einen mobilen Duschcontainer finanzieren. Die Produkte wurden von den wirtschaftlich angeschlagenen lokalen griechischen Betrieben bezogen. Eine Erfolgsgeschichte, aber ein Tropfen auf dem heißen Mühlstein politischer Taktiken. 10.000 Menschen, in Hochphasen bis zu 17.000, waren in Idomeni gestrandet, ständig an der Kippe zur humanitären Katastrophe. Ein Großteil der Versorgung wurde von unabhängigen Freiwilligenorganisationen übernommen, mit denen ich zusammenarbeitete. Es gab wohl ca. zehn Organisationen, die konstant aktiv waren und sich gut miteinander koordinierten. Drehscheibe der Volunteers war das Parkhotel Polykastro, 20 minuten von Idomeni entfernt. Dort gab es tägliche Treffen. Neuankömmlinge konnten sich beim Abendtreffen informieren und sich bestehenden Gruppen anschließen oder ihre eigenen Kleinprojekte in Absprache mit den bereits tätigen Gruppen durchführen. Sie organisierten einen Teil der Essensausgabe, die Kleiderausgabe, die Sortierung der Kleiderspenden, infrastrukturelle Maßnahmen, Kinderprogramm, Kino und Rechtsinformation. Es tummaelten sich zahlreiche Freiwillige aus aller Welt dort und packten kräftig mit an. Man könnte fast meinen, es gab so etwas wie „Voluntourismus“, wie die Trolle, die sich mittlerweile auf meinem Facebook Profil eingeschlichen hatten, mir immer wieder an den Kopf warfen. Ich kann bis heute nichts Schlechtes daran finden: Warum sollte man nicht seinen Jahresurlaub damit verbringen, etwas Sinnvolles zu tun? Neben harter Arbeit und anstrengenden Situationen gibt es auch die vielen schönen Begegnungen, mit Flüchtlingen; mit anderen Volonteers. Einige kamen auch nicht mehr weg: Manche, die nur für ein paar Tage vorbeischauen wollten, hatten ihre Lebenspläne geändert und waren bereits seit Wochen, Monaten an den unterschiedlichen Hotspots unterwegs. Erholsam ist es allerdings nicht, vor allem nicht für die Seele. Niemand wird die Geschichten und Gesichter vergessen. Niemand wird mit einem „guten Gewissen“ von hier wieder wegfahren. Es ist eine lebensverändernde Erfahrung, kein Abenteuerurlaub. Es ist ein tiefer Blick in die Zeitgeschichte der Welt und in die Abgründe Europas. Am 9. März wurden die Grenzen in Idomeni endgültig dicht gemacht. Für alle. 14.000 Menschen. Gefangen in einer Sackgasse. Doch fast niemand geht freiwillig in eins der offiziellen Lager, 8 _ ZWISCHENWELT denn die Hoffnung stirbt nicht, dass sich die stählernen Tore irgendwann doch noch wie durch ein Wunder öffnen würden. Und so existierte das Katastrophenlager Idomeni weiterhin, und die gestrandeten Menschen mussten weiterhin versorgt werden. Am 14. März kam es zu einem großen Aufstand, zum Marsch der Tausenden. Flüchtlinge machten sich zu Fuß auf den Weg über die Grenze, durch den Fluss und über die Felder. Er wurde mit gewalttätigem Einsatz seitens der mazedonischen Grenzpolizei und des Militärs beendet. Es kam zu massiven Übergriffen, es wurde willkürlich mit Gummigeschossen und Tränengas ins Lager gefeuert. Auf griechischer Seite hatte die Polizei jedoch die Order von oben, keine Gewalt gegen Flüchtlinge anzuwenden, und daran hat sie sich in dieser Situation auch gehalten. Dies unterschied Griechenland damals von vielen anderen europäischen Ländern, wo aggressives Vorgehen gegen Flüchtlinge mittlerweile an der Tagesordnung war und geduldet, wenn nicht sogar forciert wurde. Die Volunteers gerieten während dieses Aufstandes gewaltig in den Fokus der öffentlichen Kritik. Sie wurden beschuldigt, die Flüchtlinge aufgehetzt und instrumentalisiert zu haben. Man vergaß offenbar völlig, dass Flüchtlinge keine unmündigen Opfer sind, sondern dass sie durchaus auch selber fähig waren, Protest zu organisieren. Viele von ihnen haben schließlich bereits viele Jahre Erfahrung in politischen Organisationen, hatten in ihren Ländern Demonstrationen organisiert und waren selber Aktivisten gewesen. Die Menschen wollten nicht aufgeben, sie versuchten, durch Proteste, Hungerstreiks und Medienaktionen irgendwie zu erreichen, dass die Grenzen doch noch aufgingen. Sie beschrifteten ihre Zelte mit Appellen, Gedichten und Sprüchen, in der Hoffnung, dass die zahlreichen Fernschkameras ihre Botschaften in die europäischen Wohnzimmer tragen würden und sich die Menschen dort mit ihnen solidarisieren würden. IV Idomeni war inzwischen eine Art Kleinstadt geworden — eine Kleinstadt im Elend. Die „Bürgerlichen“ hatten sich in der Peripherie angesiedelt und mit allerlei Gerümpel kleine umzäunte Vorgärten im Schlamm vor ihren Wurfzelten errichtet. Es gab inzwischen dank einer Freiwilligeninitiative ein Kulturzelt, wo täglich Schulunterricht für verschiedene Altersgruppen und andere Veranstaltungen wie z.B. eine wöchentliche Zirkusaufführung stattfanden. Hier waren die Kleineren tagsüber beschäftigt, und das Programm des Kulturzeltes strukturierte die Woche. Die Essensschlangen waren nicht kürzer geworden, über den Lagerfeuern aus den Holzbeständen und Plastikabfällen wurde gekocht, was ergattert werden konnte, und wenn es regnete, wurde das Areal zu einer riesigen Schlammgrube. Das Zelt für die Kleiderausgabe hatte einen chronischen Mangel an Herrenschuhen und Winterjacken, dafür gab es eine modische Auswahl für Frauen mit Kleidergröße 38.