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zurück. An den Verhältnissen im Nachkriegsösterreich sollte er bald die allgegenwärtige Versöhnlichkeit und Harmonisierung kritisieren. Die Theaterwelt der Salzburger Festspiele nach 1945 war weitgehend ein Land der Vergangenheit. In dieses konnte man aus der zerklüfteten Wirklichkeit reisen, um sich Geborgenheit in alten Zeiten zu holen. Das Gefühl von Aktualität gab es wohl auch, aber es erwuchs mehr aus der Frage, wer denn heuer in den Kulissen der Vergangenheit auftreten werde. Wer ist der Jedermann? Wer der Clavigo? Wer die Luise? Das Szenarium wiederhergestellter Vergangenheit konnte wie ein Schleier wirken, der sich über die Gegenwart legte, selten wurde er damals gehoben.? Die Agierenden kamen vorzugsweise aus den großen Theaterhäusern Wiens, mitunter auch aus Deutschland und der Schweiz. Dass sie anreisten, war bereits ein Ereignis für die Zeitungen. Einige allerdings hatten ganz andere Reisen hinter sich, die nicht unbedingt benannt wurden, auch von den Betroffenen nicht. Sie waren von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben worden und in der Nachkriegszeit zurückgekehrt. In den Ensembles waren sie wie stets in der Minderheit, oftmals unerkannt, wenngleich bei ihren Auftritten mitunter auch gewürdigt. Vor allem im Bereich der Schauspielregie wirkten nicht wenige aus dem Exil zurückgekehrte Theaterleute, die meisten von ihnen waren jüdischer Herkunft. Die Regie ganzer Festspielsaisonen lag in den Händen ehemals Exilierter, ohne dass diese freilich eine einheitliche Gruppe bildeten. Zum Land der Vergangenheit gehörte Max Reinhardt, dem posthum eine eigentümliche Rolle zugewachsen war.‘ Es war nicht nur die Erinnerung an den Gründer der Salzburger Festspiele (SF), die hochgehalten wurde, sondern auch eine spezielle Form der Vergegenwärtigung. Der 1943 im amerikanischen Exil verstorbene Regisseur wurde zum symbolischen Rückkehrer, wobei sein Exil kaum und sein Judentum nie Erwähnung fanden. Mit dem Namen Max Reinhardt wurde Geschichtliches gleichermaßen beschworen wie ignoriert, aus dem Blick geriet die Vereinnahmung und Instrumentalisierung der SF durch die Nationalsozialisten.° Dass das Salzburger Landestheater im ersten Jahr der SF Hugo von Hofmannsthals Der Tor und der Tod aufführte, war eine Notlösung, aber mit ihr wurde doch gleich jene typische Bedeutsamkeit erzeugt — Reinhardt und Hofmannsthal, die Griindervater, so schien es, wirkten weiter. Schon im zweiten Jahr wurde mit dem von den Nationalsozialisten verbotenen Jedermann eine Wiederbelebung der Reinhardt’schen Arbeit vorgenommen, die einem Versuch der Konservierung gleichkam; Heinz Hilpert war der Regisseur. Einst von Max Reinhardt engagiert und dessen Oberspielleiter am Deutschen Theater, während des NS-Regimes Direktor der chemaligen Reinhardt-Bühnen — Deutsches Theater und Theater in der Josefstadt — sowie Intendant der SE, galt er als „Nachfolger Max Reinhardts“.° Hilpert inszenierte den Jedermann am Salzburger Domplatz explizit nach dessen Regiebuch. „Alle Gedanken, Absichten, die ganze Regie soll die Reinhardts sein; ich bin nur ausführende Hand“, wurde er zitiert.’ Die symbolische Rückkehr Reinhardts wurde vor allem durch Helene Ihimig repräsentiert, seine Witwe, die aus dem amerikanischen Exil zurückgeholt worden war; dass sie gleich im Jedermann des Jahres 1946 den Glauben spielte, unterstützte jene weihevolle Aura, die sie fortan umgeben sollte. Die Beschreibung ihres Auftritts konnte in eine allegorisierte Verbindung von Erinnern und Vergessen münden: „Der große Augenblick der Aufführung war die Wiederbegegnung mit Helene Thimig. Wie weggewischt war 10 ZWISCHENWELT das Böse, das Traurige der Vergangenheit, weggebrannt von der unendlich reinen, keuschen und hellen Flamme ihres Wesens.“® Der Rückgriff auf das Theater Max Reinhardts erfolgte auch auf heiterem Gebiet: Hermann Ihimig - als Schauspieler und Schwager Reinhardts nunmehr in der Nachkriegskonstellation erneut mit diesem öffentlich assoziiert — inszenierte 1946 nach dessen Regiebuch Goldonis Der Diener zweier Herren in der Felsenreitschule; eine Übernahme der Burgtheater-Inszenierung (im Redoutensaal der Hofburg), die schon der Erinnerung an Reinhardt gewidmet war. Dieser hatte mit dem Stück 1924 das Theater in der Josefstadt eröffnet und es 1930 in den Spielplan der SF aufgenommen. Hermann Thimig, der Truffaldino von 1926, 1930 und 1931, war auch der Truffaldino von 1946. Das galt bereits als Beleg für den Wiedergewinn eines österreichischen Charakters der SE, und die Berufung aufeinen „österreichischen Geist“ — ftir den auch Hermann Thimig Bekenntnisse lieferte — war mit der Beschwörung Max Reinhardts zusammengefallen.? Die SF wirkten exterritorial und waren gerade dadurch Ausdruck ihrer Zeit. Gegensätzliche Erfahrungen liefen zusammen und sollten in eine Neutralität reiner Theaterarbeit münden. Am Salzburger Landestheater" kam 1947 Die Frau des Potiphar von Alexander Lernet-Holenia zur Aufführung. Lernet-Holenia selbst vermochte seiner Biografie den Anschein des Exterritorialen zu verleihen, die eigenen Anpassungen unter dem NS-Regime zu kaschieren!! und sich den Status eines Grandseigneurs zu geben, der nicht dabei gewesen war. Der Regisseur des Stücks aber war Oskar Wälterlin, Direktor des Zürcher Schauspielhauses, das zwischen 1933 und 1945 tatsächlich eine Enklave gewesen war. Dort hatten zahlreiche Exilantinnen und Exilanten gearbeitet und die antinazistische Ausrichtung geprägt. Heterogenität der Biografien Zwei ehemalige Protagonisten des Zürcher Schauspielhauses, Wolfgang Heinz und Karl Paryla, spielten im Jedermann von 1947, dessen Inszenierung weiterhin unverändert Max Reinhardt folgte, und für die jetzt Helene Thimig verantwortlich war. Heinz und Paryla wirkten in Wien nach ihrer Rückkehr aus dem Exil zunächst am Volkstheater, 1948 begründeten sie das von den Kommunisten unterstützte Neue Theater in der Scala. In der Jedermann-Inszenierung waren sie die Bösen: Wolfgang Heinz verkörperte den Mammon und Karl Paryla den Teufel, während der sich läuternde Jedermann von Attila Hörbiger dargestellt wurde. Attila Hörbiger, das war der bedeutende österreichische Schauspieler, Reinhardts Jedermann von 1935 bis 1937 und seit 1929 Ensemble-Mitglied des Theaters in der Josefstadt. Er war aber auch derjenige, der — vor der „Volksabstimmung“ am 10. April 1938 - öffentlich die Annexion Österreichs begrüßt und sich zu Hitler bekannt hatte, Mitglied der NSDAP gewesen war sowie gemeinsam mit seiner Frau Paula Wessely im antipolnischen und antisemitischen NS-Propagandafilm Heimkehr gespielt hatte.'? Sein Wiederauftritt als Jedermann war eine Wiederzulassung. Trotz mancher Kritik war der Jedermann bald erneut als Tradition etabliert und das Spiel vom Sterben des reichen Mannes entfaltete seine Einheit stiftende Wirkung weniger durch das Motiv der Erlösung als durch seine Attraktion als Museumsstück. An der Besetzung des Mysterienspiels, das auf die Homogenität des guten Ausgangs gerichtet war, lässt sich eine Heterogenität der