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Am letzten Märzwochenende 2020, als die USA die meisten Ansteckungen mit dem Corona-Virus weltweit verzeichneten, mit der Metropole New York als Epizentrum, erschien ein Artikel der Kritikerin und Kolumnistin der New York Times, Ginia Bellafante, in dem sie mit Eva Kollisch und Naomi Replansky über deren Erfahrungen während einiger der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts sowie ihren Umgang mit der durch die Pandemie ausgelösten Situation sprach. Entstanden ist eine Geschichte vom Überleben und von Resilienz. Die 95-jährige Eva Kollisch, im Jahr 2012 Theodor Kramer Preisträgerin, und die 101-jährige Dichterin Naomi Replansky, sie sind langjährige Lebensgefährtinnen und seit 2010 verheiratet, leben in einem Ein-Zimmer-Apartment in der Upper West Side in Manhattan. Sie erzählen, dass die Beschränkungen sie nicht besonders störten, auch wenn sie vor dem Ausbruch des Corona-Virus’ viel Zeit außer Haus verbracht hätten, mit langen Spaziergängen oder Einkäufen am Bauernmarkt. Beunruhigt seien sie durch die Situation aber nicht. Kennengelernt haben sich Eva und Naomi bei einer Lesung von Grace Paley in den 1980er-Jahren, welche die beiden einander vorstellte. Damals lagen die Katastrophen und die gesellschaftlichen Zerrüttungen, die ihrer beider Leben geprägt hatten, schon länger zurück. Aufgewachsen in Europa bzw. Amerika in einer Zeit, in der immer wieder Seuchen und Konflikte ausbrachen und Verlust, Entbehrung und Einschränkung die Leben vieler Menschen bestimmten, kamen auch Eva und Naomi schon als Kinder mit Leid und Unheil in Berührung. Vielleicht, so die Autorin der New York Times, habe sich bei ihnen auf diese Weise eine Form von Gelassenheit gegenüber derartigen Ereignissen entwickelt. Auch ihre Lebensverläufe würden von einer gewissen Furchtlosigkeit zeugen: So arbeitete Eva nach ihrem Schulabschluss in New York in einer Autofabrik in Detroit, engagierte sich abends in einer trotzkistischen Gruppe und trampte in ihrer freien Zeit quer durchs Land. Naomi schloss die Schule 1934, am Höhepunkt der „Großen Depression“ ab und arbeitete jahrelang in Büros, am Fließband und als Dreherin, bis sie sich ein Studium an der U.C.L.A. leisten konnte. Sie veröffentlichte ihren ersten Gedichtband 1952 und war eng mit Richard Wright und Bert Brecht, dessen Werke sie ins Englische übersetzte, befreundet. Geboren wurde Naomi im Mai 1918 in der Bronx. Ihre Geburt fiel somit zusammen mit dem Ausbruch der Spanischen Grippe, eine Pandemie, die weltweit Millionen Todesopfer forderte. Daneben wüteten zu jener Zeit jedoch noch zahlreiche andere Seuchen, etwa Typhus oder Polio, die im Juni 1916 in New York zur Epidemie erklärt worden war. Bevor in den 1950er-Jahren Impfstoffe gegen Polio entwickelt werden konnten, kam es fast jeden Frühling zu einem Ausbruch der Krankheit. Öffentliche Versammlungen wurden regelmäßig untersagt, die wohlhabenden Stadtbewohner flüchteten aufs Land. Auch Naomis Familie blieb nicht verschont: In den 1920er-Jahren erkrankte ihre kleine Schwester an Polio, eines ihrer Beine blieb als Folge ihr Leben lang gelähmt. Als Naomi zwölf Jahre alt war, starb ihr älterer Bruder an einer Mittelohrentzündung, eine Behandlung mit Antibiotika gab es noch nicht. Eva, 1925 in Wien geboren, flüchtete im Juli 1939 gemeinsam mit ihren Geschwistern mit einem Kindertransport über die Niederlande nach England. Zunächst betrachtete sie das Ganze als ein Abenteuer, doch in England angekommen, wurden sie und ihre Brüder getrennt, während die Eltern in Wien versuchten, ihre Flucht zu organisieren — die große Einsamkeit von damals ist Eva bis heute in Erinnerung geblieben. 1940 gelangten die Geschwister in die USA, wo sie die Eltern bereits erwarteten. Die Familie musste alles zurücklassen, weshalb ihre Mutter, die bekannte Schriftstellerin Margarete Kollisch, Geflüchteten Englischunterricht erteilte, um sich eine Ausbildung zur Masseurin zu finanzieren. Der Vater, ein prominenter Architekt, verkaufte Staubsauger. Beide Frauen machten schon in jungen Jahren Erfahrungen mit dem grassierenden Antisemitismus. Eva, die ihre Schulzeit in Baden bei Wien verbrachte, erinnert sich daran, mit sechs Jahren von einigen Kindern verprügelt worden zu sein, die sie als „dreckige Jüdin“ beschimpften. Naomi, die in der Bronx aufwuchs, musste als Kind die faschistischen und antisemitischen Radiosendungen des Priesters Charles Edward Coughlin (,,Father Coughlin“) durch die offenen Fenster ihrer Nachbarschaft mitanhören. Ihre Großeltern waren zur Jahrhundertwende vor den Pogromen in Russland nach Amerika geflüchtet. Als Immigranten wurden sie auch für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich gemacht. Und ebenso drangen Sexismus und Homophobie unweigerlich in ihr Leben. Evas Mutter riet ihr, ein Hotel oder einen Schönheitssalon zu betreiben. Doch Eva wünschte sich ein urbanes, intellektuelles Leben. Schließlich wurde sie Professorin für vergleichende Literaturwissenschaft am Sarah Lawrence College. Wie man dem Interview der New York Times entnehmen kann, würden Eva und Naomi sich in diesen durch das Corona-Virus bestimmten Tagen weniger um sich selbst als um ihre Generation sorgen, und mehr als Furcht vor dem Kommenden, Sehnsucht nach dem Verlorenen verspüren. Der Artikel „They Survived the Spanish Flu, the Depression and the Holocaust“ von Ginia Bellafante erschien am 28. März 2020 in „The New York Times“ (online-Ausgabe). — Deutsche Zusammenfassung von Corina Prochazka September 2020 15