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Vladimir Vertlib Das Leben ist wie eine Insel Mein lieber Kollege, der österreichische Schriftsteller Dimitre Dinev, bemerkte einige Wochen vor Beginn der Corona-Krise während einer Lesung in Salzburg: Unser Leben ist wie eine Insel, eine Insel, die umgeben ist von Tod. Ex wird mir bestimmt verzeihen, wenn ich ihn nur sinngemäß aus dem Gedächtnis und nicht wortwörtlich zitiere. Unser Leben ist kurz und ein einmaliges Glück, der Tod ist unausweichlich, und was danach kommt, ist ungewiss. Jeder von uns weiß allerdings, dass er oder sie mit größerer Wahrscheinlichkeit bei einem Auto- oder Radunfall als an den Folgen von Covid-19 sterben wird. Doch spielt das überhaupt keine Rolle, denn der Unfalltod ist ein Trauma, gegen das wir als Gesellschaft schon eine Art Immunität entwickelt haben. Wir haben gelernt, mit dem Risiko zu leben. Zumindest jedoch haben wir uns damit abgefunden. Eine Seuche von biblischen Ausmaßen hingegen ist eine leibhaftig gewordene Metapher. Dies böte eine gute Gelegenheit, innezuhalten und darüber nachzudenken, wofür dieses Virus eigentlich steht. Die Menschen des Spätmittelalters taten dies sehr wohl und stellten die Pest in den meisten Abbildungen jener Zeit entsprechend drastisch dar: als Schnitter Tod, auf einer Schindmähre reitend, mit einer Sense in der Hand. Das Corona-Virus hingegen kennt man als behaarten, bunten Ball, der an Kinderspielzeug erinnert. Der Tod trifft „die Anderen“, jene Alten und Schwachen, die man schützen soll, und wenn er auftritt, dann als Zahl oder als Prozentsatz. Man durchleidet wirtschaftliche Existenzängste, diskutiert darüber, ob man Masken tragen soll oder nicht, und freut sich, dass die Geschäfte und Lokale wieder offen sind. Die Corona-Krise ändert wenig an den grundsätzlichen Prinzipien und Regeln der Welt. Das Konsum- und Sozialverhalten setzt — mit leichten Verschiebungen und ein paar neuen Schwerpunkten — dort an, wo es vor der Krise aufgehört hat, und wird bald wieder dort sein, wo es einmal war. Der Umgang mit dem Corona-Virus zeigt die ganze Ambivalenz der post-postmodernen Welt auf: Man unternimmt alles, bis hin zum Niedergang der Weltwirtschaft und einem nachhaltigen Wohlstandsverlust, um das Leben von Menschen zu retten, ohne dass dies zu einem intensiven gesellschaftlichen Diskurs über den Wert und die Bedeutung des menschlichen Leben an sich führen würde. Dabei wäre dies die Gelegenheit, über Themen wie Euthanasie und Abtreibung, über Hunger und Armut, Wirtschaft und Soziales, den Klimawandel, über Seuchen (jedes Jahr sterben immer noch Millionen Menschen an Malaria, Gelbfieber, der Schlafkrankheit, Tuberkulose, Aids und mancherorts sogar noch an der Cholera) und den alltäglichen Tod, den wir hinnehmen, den wir verdrängen und vor dem wir Angst haben, auf eine neue Weise zu diskutieren. Das heißt nicht, dass alles neu verhandelt werden muss, doch zumindest angedacht und neu besprochen sollte es werden. Wird man die Angehörigen der Opfer mit ihrer Trauer allein lassen? Ich fürchte, ja. Allenfalls wird man sie zu Symbolen stilisieren, zu gefühlsbeladenen Projektionsflächen der anderen, Edelkitsch in den Händen jener, die rasch genug zur Stelle sind, um die ersehnten Symbole zu formen... Man vergleicht täglich Sterbezahlen, erstellt Statistiken, zeigt sich erschüttert über rechte Recken wie Trump und Bolsonaro, streitet über Sinn und Unsinn des „schwedischen Modells“, spricht aber selten über Sterben und Tod. Man redet viel über alte Menschen und versucht alles, sie zu schützen, obwohl man gerade sie in den 16 _ZWISCHENWELT letzten Jahrzehnten immer öfter als Bürde und als ökonomisch wertlos angesehen hat, und sie auch jetzt erstaunlich selten selbst zu Wort kommen lässt. Man beschwört Werte wie Solidarität und Nachbarschaftshilfe, wird dabei aber immer nationalistischer oder zumindest lokalpatriotischer und kocht letztlich sein eigenes Süppchen. Und über allem liegt die Angst — latent und manifest, bewusst, halb bewusst, bewusstlos, die Angst um uns selbst und um jene, die uns nahe stehen. Todesangst! Urangst, viel alter als wir selbst! Eine Angst, die noch Jahre und Jahrzehnte unser Selbstverstandnis, unsere Mentalität und Kultur prägen wird. Aber kaum jemand spricht das offen aus. Was ängstigt uns am meisten? Der Kontrollverlust? Vielleicht. Doch eigentlich wissen wir alle, wie wenig wir im Leben wirklich unter Kontrolle haben. Wir wachen morgens fröhlich, voller Tatendrang und Pläne auf und liegen abends schon in der Kühltruhe des Leichenschauhauses, weil uns eine Wespe gestochen hat, und wir nicht gewusst hatten, dass wir gegen Wespenstiche allergisch sind. Um überhaupt leben zu können, verdrängen wir ständig, aber wir vergessen nicht, dass das Leben eigentlich eine Zumutung ist. Ist es die Dimension dieser Pandemie, die uns in Panik versetzt? Wohl kaum. Es gab viel schlimmere Epidemien, und es gibt, wie schon erwähnt, heute noch Krankheiten und Seuchen, die jedes Jahr mehr Menschenleben kosten, ohne dass dies jemals einen Bericht in den Nachrichten wert wäre. Jedoch handelt es sich um Krankheiten, die wir seit langem kennen. Wir können die mit ihnen verbundenen Gefahren einschätzen, wir wissen wie wir sie bekämpfen, wie wir uns vor ihnen schützen (oder nicht schützen können) und welche Wirkung sie auf uns haben. Covid-19 jedoch ist immer noch die große Unbekannte. Noch weiß man nicht über die Spätfolgen dieser Krankheit, über etwaige Resistenzen gegen noch nicht entwickelte Impfungen, über die Tücken der Ausbreitung, über weitere Wellen der Krankheit oder mögliche Mutationen des Virus Bescheid. Genau das aber aktiviert jene Urängste, die zum Teil noch tiefer liegen als die meisten anderen. Die Angst vor den großen und unbekannten Seuchen, die plötzlich, überfallsartig, die Bevölkerung heimsuchen und dezimieren, ist wohl tiefin unseren Genen und unserem kollektiven Gedächtnis gespeichert. Unsere Reaktion auf den Corona-Virus und Covid-19 ist einerseits hypermodern, andererseits aber sehr archaisch. Niemand von uns hat die Spanische Grippe, die großen Pest- und Choleraepidemien sowie die Pockenepidemien vergangener Jahrhunderte erlebt, doch jede und jeder trägt instinktiv den absoluten Horror davor in sich: das Ausgeliefertsein an einen „unsichtbaren Feind“, den man nicht einschätzen kann, dem man ohnmächtig ausgeliefert ist wie einer metaphysischen Kraft, sei dies nun Gott oder Teufel oder das Schicksal, welches uns unaufhaltsam hin zum Abgrund schiebt. Um zu überleben, haben wir gelernt, anderen Menschen zu vertrauen. Das diesem Vertrauen zugrunde liegende Grundgefühl kann bei einzelnen Menschen, die Missbrauch, Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Flucht, Exil, Konzentrationslager oder Deportationen erlebt haben, verloren gehen, kehrt aber in den nachfolgenden Generationen (langsam) wieder zurück. Der Horror vor der „großen Seuche“, dem unsichtbaren Feind, ist viel tiefer und