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nachhaltiger und wohl nur mit der Angst vor der noch größeren und noch älteren Geißel der Menschheit vergleichbar — dem Hunger. Schon gibt es Menschen, die vor den wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns und einem Massenhunger in Ländern der Dritten Welt warnen. Wir sollten unsere Alten und Kranken, die ohnehin bald sterben, opfern, auf dass nicht morgen noch mehr Kinder sowie gesunde, junge Menschen verhungern. Glücklicherweise ist diese Meinung (noch?) nicht mehrheitsfähig! Während die Physiokraten in Zeiten des Absolutismus mit der Mehrung der Bevölkerung eine Mehrung des Reichtums erwarteten ‚sah Thomas Robert Malthus’ (1766 — 1834) in seiner Bevélkerungstheorie — ,,An Essay on the Principle of Population“ (1790) — die zunehmende Masse der Verarmten und Mittellosen schon als eine entbehrliche Last. Von ihm stammt der in späteren Auflagen eliminierte forsche Satz: „Ein Mensch ... wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren, oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, ... hat nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu erlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. (...) Die Natur gebietet ihm abzutreten ...“ Das spukt noch immer in den Köpfen. Exil und Widerstand in Frankreich Il mit Alexander Emanuely, Konstantin Kaiser und Sonja Pleßl Alexander Emanuely Vorbemerkung Gewidmet unserem Freund Michel Cullin, verstorben am 3. März 2020. Mein Bruder hatte einen österreichischen Paß, ausgestellt in Batavia, dem jetzigen Djakarta, was ja damals superexotisch war. Mein falscher Paß hatte den Ausstellungsort Wien, meine Schwester hatte einen echten Paß. Da mein Paß auf einen falschen Namen ausgestellt war, hatte ich meine Schwester zu meiner Braut ernannt. Die französische Pafkontrolle kam. Josef „Joschi“ Friedler Für die Verfolgten und Exilierten existierten starke Impulse, Zeugnis von ihrem Leben und dem, was ihnen widerfuhr, abzulegen. Zum einen galt es, gegen die Verfolger zu zeugen und ihre Untaten zu belegen. Zum anderen aber versuchten die mit autobiografischer Intention Schreibenden die gewaltigen Brüche ihres Lebens und die Zerstörung der Welt, in der sie aufgewachsen waren, in der Darstellung eines letztlich sinnvollen eigenen Lebens zu kitten. Das Archiv der TKG beherbergt eine Fülle solcher Zeugnisse. Beginnend mit 1984 wuchs dieses Archiv im Zuge unserer Forschungstätigkeit für das Lexikon der österreichischen Exilliteratur, der jahrzehntelangen Publikationstätigkeit in der Zeitschrift MdZ/ ZW, der verlegerischen Tätigkeit in mehreren Buchreihen sowie durch Schenkungen. Das 2018 begonnene, 2019 abgeschlossene Projekt „Zur Biographik und Autobiographik von Verfolgung, Widerstand und Exil: Sichtung und Bearbeitung eines Bestandes an unveröffentlichten Dokumenten österreichischer Exilierter“ setzte sich zum Ziel, diese Zeugnisse zu dokumentieren, zu verschlagworten und zumindest auszugsweise zugänglich zu machen. Weiters wurden und werden aus dem Archivbestand der TKG ausgewählte unveröffentlichte (auto-)biografische Texte und Dokumente von Verfolgten, Exilierten, WiderstandskämpferInnen vor allem auf unserer Webseite, aber auch, wie in der vorliegenden Ausgabe, in ZW publiziert. Einige der gesichteten Manuskripte legen nahe, sie im Rahmen der Buchreihe anders erinnern zu publizieren. (Projektleiterin war Mag. Dr. Irene Nawrocka, Projektnehmerin Mag. Katrin Sippel, MA. Seitens der TKG waren Dr. Alexander Emanuely, Dr. Konstantin Kaiser und Mag. Corina Prochazka an der Aufarbeitung beteiligt) Dieses Projekt stellte gewissermaßen eine Fortsetzung des mit der internationalen Konferenz „Zur Biographik und Autobiographik von Exil, Widerstand und Verfolgung“, Begonnenen dar. Diese Konferenz wurde von der TKG in Kooperation mit dem Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Haus der Geschichte Österreich im November 2017 veranstaltet. Wir wollen Aufzeichnungen des Exils besser als bisher für die zeitgeschichtliche Forschung zugänglich machen, denn, abgesehen davon, dass die lebendige Schilderung des Geschehenen, des Alltags, der Widerstandstätigkeit, der Flucht durch die Betroffenen das Bild der historischen Ereignisse ungemein bereichert, stellen in vielen Fällen die Berichte von Flüchtlingen und WiderstandkämpferInnen auch die einzig vorhandene Quelle dar. Es liegt auf der Hand, dass die politische Arbeit im Untergrund in den meisten Fällen nicht schriftlich dokumentiert werden konnte; auch die Aufzeichnungen der Verfolger sind vielfach verloren gegangen oder vernichtet worden. Selbst Protokolle von Gerichtsverhandlungen sollte man nicht für bare Münze nehmen: Zugegeben wurde in der Regel ja nur, was nicht mehr zu bestreiten war. Im vorliegenden Heft finden Sie umfangreichere Zeugnisse unseres Archivs vor, die Exil und Widerstand in Frankreich betreffen, so von Josef Friedler, Alfred Frisch, Anton Pariser und Walter Stein. Diese ermöglichen kollektivbiografische Einblicke zu den teilweise gemeinsam erlebten Episoden in den Lagern und in der Resistance. So liegen sich thematisch und zeitlich überschneidende Berichte vor, z.B. von der österreichischen Holzfallergruppe in den Hautes Pyrénées. Die Ausziige aus den Erinnerungen Herbert Traubes und Irene Spiegels sind Vorabdrucke aus zwei Biichern, die heuer (2020) September 2020 17