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zu haben. Der Kriegsausbruch wurde von den Flüchtlingen mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Einerseits war allen bewusst, welchen Schrecken und welche Zerstörung Krieg bringt, anderseits war da die Hoffnung, Nazi-Deutschland könnte in kurzer Zeit besiegt werden. Die verrücktesten Gerüchte verbreiteten sich, von einer anfänglichen Taktik der Polen („die Deutschen eindringen lassen, um sie besser besiegen zu können...“), über das Kräfteverhältnis, die Stärke der französisch-englischen Truppen („die die Nazis schlucken werden...“) bis zum Abtrünnigwerden von Hitlers treuesten Gefährten, um nur einige zu erwähnen. Es war eine Zeit des fieberhaften Wartens, unter uns überwogen die Optimisten, und manche sahen sich bereits in ihre Heimat zurückkehren, der eine nach Deutschland, der andere nach Österreich. Belgien blieb neutral und wir lebten fast wie zuvor weiter, jeden Tag auf die Nachricht einer baldigen Niederlage Deutschlands wartend. Jedoch: Das Gegenteil trat ein. Gegen Ende des Jahres 1939 erhielt eine Gruppe junger Leute von den Engländern die Erlaubnis, nach Palästina zu immigrieren, das britisches Mandatsgebiet war. Die Altersgrenze lag bei 17 Jahren. Es wurden also jene Burschen und Mädchen bestimmt, die diese bald erreichen würden, denn später würden sie nicht mehr akzeptiert werden. Meine Schwester fand sich unter diesen Glücklichen, ich aber, erst 15 Jahre alt, musste auf einen nächsten Konvoi warten. Ich erinnere mich, Lilly mit meinen Eltern begleitet zu haben und den Zug entlang gelaufen zu sein, um sie so lange wie möglich zu sehen. Diese neuerliche Trennung hinterließ Niedergeschlagenheit, aber doch auch das Versprechen, sie weit weg von Europa vor dem Krieg in Sicherheit zu wissen, und für mich die Hoffnung, ihr eines Tages nachzufolgen. Ich sollte sie erst 23 Jahre später wiedersehen... Nach einem kalten Winter und einem Frühling, der auf sich warten ließ, begann der Monat Mai. Ich kann mich noch genau an den Lärm der STUKAS erinnern, die in den Morgenstunden des 10. Mai 1940 Brüssel überflogen. All ihre Sirenen heulten und versetzten die Bevölkerung in Panik. Sie warfen Flugblätter ab mit der Aufforderung an die Truppen, sich zu ergeben. Die Neutralität Belgiens, so wie jene der Niederlande, existierte nicht mehr. Was jetzt sofort zu tun sei, war die Frage. Was mich betraf, so entschied ich, mich an meinen Arbeitsplatz zu begeben und die Anweisungen meines Chefs abzuwarten. Der Wind blies kalt an jenem Morgen, so zog ich eine Art graugrünen Parka mit Kapuze an und fuhr mit dem Rad los. Im Radio aber war bereits vor den deutschen Fallschirmspringern und den sie jagenden Patrouillen gewarnt worden, die von Zivilisten verstärkt wurden. An einer Kreuzung finde ich mich von einer Gruppe tapferer Leute umringt, die zuerst meine Papiere verlangen, mich fragen, woher ich komme, wohin ich wolle, bis einer nach dem anderen ausruft: „Das ist ein Para, schaut, wie er angezogen ist, feldgrau, und der Akzent! Das ist ein Deutscher, wir haben einen gefangen! Wir werden es ihm zeigen!“ Ich konnte erklären, was ich wollte, dass ich geflohen bin, dass ich zu meiner Arbeit wollte, dass ich nichts lieber wollte, als selber einen deutschen Fallschirmspringer zu erwischen. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass ich nicht weit gekommen bin. Mit Sicherheit wäre es mir übel ergangen, wenn nicht ein Uniformierter vorbeigekommen wäre, der mich schließlich zum Herrn Professor 22 _ ZWISCHENWELT brachte. Mit ihm, angetan mit der Uniform eines Obersten des Sanitätsdienstes der belgischen Armee, kam alles in Ordnung. Abgesehen von ein paar Faustschlägen war mir nicht viel passiert. Aber der „feldgraue“ Parka landete im Mistkübel! Der Professor Oberst begab sich zu seiner Einheit, die Werkstatt wurde geschlossen. Wir wünschten einander viel Glück und vereinbarten ein Wiedersehen in einigen Tagen, wenn die Deutschen endgültig besiegt sein würden. Von dem, was uns in den nächsten Tagen, Monaten, Jahren erwartete, hatten wir nicht die geringste Ahnung. Im Laufe des Vormittags kam ich nach Hause und erfuhr, dass mein Vater sich als Bürger eines feindlichen Landes in Gefangenschaft begeben sollte, so wie alle „männlichen“ Flüchtlinge deutscher Nationalität über 16 Jahren, ein Alter, das ich noch nicht erreicht hatte. Ironie des Schicksals: Die Deutschen hatten meinen Vater in Dachau eingesperrt, weil er in ihren Augen kein Deutscher war, und die Belgier sperrten ihn ein, weil er Deutscher war! All diese deutschen Staatsbürger wurden umgehend in Viehwaggons gesperrt und nach Frankreich transportiert. Später erfuhren wir, dass diese Waggons die Aufschrift „Fünfte Kolonne“ trugen, was bedeutete: Spione, feindliche Agenten! Der Empfang, der dem Zug an jeder Haltestelle bereitet wurde, war entsprechend: Statt Wasser und Nahrung zu reichen, hagelte es Beleidigungen und Todesdrohungen. Die Reise dauerte mehrere Tage, unter Bedingungen, die später von den in die KZs Deportierten beschrieben wurden, und endete nahe Perpignan an der Mittelmeerküste im Lager Saint-Cyprien, das ursprünglich für spanische Flüchtlinge errichtet worden war. Niemand hat nach dem Debakel von 1940 darüber berichtet, die Bevölkerungen waren ob der Niederlage und der Verwirrung zu traumatisiert, das Schicksal einiger tausend jüdischer Flüchtlinge interessierte niemanden. Nach der Abfahrt meines Vaters wurden die Nachrichten immer alarmierender, die Deutschen näherten sich Brüssel, die Besetzung der Stadt stand bevor. Die Flüchtlinge hatten bloß die Wahl zwischen zwei Unabwägbarkeiten: Vor Ort zu bleiben und die Deutschen abzuwarten, in der Hoffnung, dass die belgischen Behörden die Flüchtlinge schützen würden, oder die Flucht Richtung Süden nach Frankreich versuchen, so weit weg wie möglich. Meiner Mutter und mir schien die zweite Option die naheliegendere, zumal wir wussten, dass der Zug mit unserem Vater in diese Richtung gefahren war. Am nächsten Morgen trafen wir also mit Tausenden anderen auf den Bahnsteigen des Brüsseler Bahnhofs Gare du Midi ein, in den Händen einen Koffer und ein Bündel, und ließen wieder alles zurück, was wir besaßen. Inmitten eines unbeschreiblichen Gedränges gelang es uns, in den Waggon eines Personenzuges zu kommen, wir saßen, zusammengekauert, einer an den anderen gedrückt, die Flüchtlinge quetschten sich in die Abteile, auf die Gänge und Treppenabsätze. So fuhren wir mehrere Tage. Bei dieser Fahrt erwartete uns an jedem Halt, der manchmal mehrere Stunden dauerte, das Rote Kreuz oder der Secours National und wir erhielten zu trinken und zu essen und konnten aus dem Zug steigen und uns die Beine vertreten. Zwei oder drei Mal wurden wir von deutschen Jagdflugzeugen angegriffen, es gab Verletzte unter unseren Bekannten. Schließlich erreichten wir Luchon in den Pyrenäen. Ich habe keine präzisen Erinnerungen an die gesamte Zugreise, die Bilder in meinem Kopf zeigen nur meine Mutter, wie sie unentwegt auf mich achtet und um mich