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besorgt ist, wie sie sich fürchtet und gleichzeitig versucht, ihre Angst zu verbergen, um mich nicht zu verschrecken. Für sie war ich noch immer ihr Bub, ihr Kleiner, den sie beschützen musste! Dabei war es nun an mir, sie zu beschützen — aber das zu sehen wäre zu viel von ihr verlangt gewesen. Das Rote Kreuz erwartete uns bei der Ankunft in Luchon. Ländliches Zwischenspiel in Villeneuve-de-Berg Die Nacht verbrachten wir in einem zum Schlafsaal umfunktionierten Turnsaal. Dann wurden wir neu in Gruppen eingeteilt, um weiter in die Orte transportiert zu werden, die für die Aufnahme von Flüchtlingen aus den Kampfzonen vorgesehen waren. So fanden wir uns mit etwa hundert anderen am Weg nach Villeneuve-de-Berg, einem abgelegenen kleinen Dorf im Département Ardéche. Unser Konvoi bestand aus Familien aus Spanien — Fliichtlinge des Spanischen Bürgerkriegs —, aus Lille und Belgien und drei oder vier jüdischen Familien aus Belgien wie wir. Die Räumlichkeiten, in denen wir untergebracht wurden, waren mit f hölzernen Bettgestellen und mit Kapok gefüllten Matratzen der Armee ausgestattet, alles schr einfach, aber sauber und relativ komfortabel. Mit WS nen Schlafsaal mit etwa zehn Betten; andere Familien fanden sich nach Herkunft oder Bekanntschaft zusammen. Jedenfalls glaubten wir, dass der in den Rücken“ bezeichnet wurde, denn die französische Armee war bereits geschlagen. Jetzt war mein Freund mit einem Schlag ein ,,Spaghettifresser“, ein Feind, und ich, sein Freund, wurde unversehens „der Deutsche“. Beide waren wir nun über Nacht zu Parias geworden. Zuvor war ich, wiewohl meine österreichische Herkunft bekannt war, ein Flüchtling wie andere gewesen. Körperlich wurden wir nicht angegriffen, aber man kehrte uns den Rücken — mit Ausnahme der Spanier, die bereits selber diese Art von Diskriminierung zu spüren bekommen hatten. Es war mein Freund, der mir von der Kapitulation erzählte, von der Machtergreifung durch P£tain, dem totalen Sieg der Nazis. „Sie“ hatten wieder gewonnen. Verflogen waren all unsere Hoffnungen auf baldige bessere Zeiten. Krieg bald vorüber sein würde und die Niederlage der Deutschen bevorstünde, Parolen wie „Wir werden siegen, denn wir sind die Stärkeren!“ 12000 Juits arrétés sur le sol de FRANCE par VICHY | m; I DT Gedenktafel für das Lager Gurs verzierten überall die Mauern und nichts wünschten wir mehr als daran zu glauben. Weder meine Mutter noch ich verstanden ausreichend Französisch, um die Nachrichten im Radio oder in der Zeitung verfolgen zu können. All unsere Hoffnungen, all unsere Wünsche konzentrierten sich auf einen raschen Sieg der Alliierten über die Nazis, damit wir wieder heimkehren und ein normales Leben führen könnten. Später habe ich erfahren, dass meine Mutter nicht sehr daran glaubte, aber sich zuversichtlich gab, damit ich den Mut nicht verlor. Mir gefiel es in dem kleinen Dorfgut. Mit den jungen Leuten in meinem Alter, die dort lebten, versuchte ich zu reden, das heißt, so gut es ging zu kauderwelschen. Wir streiften über die Hügel und sobald es im Sommer warm genug war, gingen wir im Fluss unten im Tal baden. Unter den Jungen im Dorf war ein Italiener, der bald mein Freund wurde. Oft saßen wir unter einer riesigen Linde etwas außerhalb des Dorfes im Schatten zusammen. Er brachte mir französische Wörter bei, indem er Dinge, Blumen, Tiere benannte. Ich versuchte sie mehr schlecht als recht zu wiederholen und er lachte lauthals darüber. Unsere Freundschaft vertiefte sich mit dem 10. Juni 1940, dem Tag, als Italien Frankreich den Krieg erklärte, was als „Dolchstoß Wenn mir auch bewusst war, was geschehen war, so begriff ich doch nicht die ganze Tragweite der neuen Situation. Unmöglich sich vorzustellen, dass Frankreich, das Land der Aufklärung, der Toleranz und des Humanismus, antijüdische Gesetze erlassen würde! Wir dachten einfach, wir würden weiterhin Flüchtlinge bleiben, die sich irgendwo in Frankreich eine neue Existenz aufbauen müssten. Inzwischen war es Sommer geworden. Der „Spaghettifresser“ gehörte zu den Siegern und ich deshalb auch. Vorbei mit dem Paria-Dasein! Wir wurden zwar manchmal schief angeschen, aber eher mit Vorsicht. Gipfel des Widersinns: Ich, jüdischer Flüchtling, Todfeind der Deutschen, war für manche einer der „neuen Herren“! Wir badeten, brachten die wenigen Mädchen in unserem Alter, die uns begleiteten, zum Lachen und stibitzten Früchte aus wenig überwachten Obstgärten — die meisten Männer waren ja eingezogen worden und erst wenige von ihnen zurückgekehrt. So verbrachten wir unsere Zeit. Im Übrigen erfuhren wir nach und nach die erschreckend hohe Zahl der nach Deutschland verschickten Gefangenen. Eines Tages kam ein Brief von Vater! Welches Wunder hat ihn uns finden lassen? Zweifellos hat er unsere Adresse über das Rote September 2020 23