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Kreuz herausgefunden — und über den „Dschungeltelegrafen“, der vor allem unter jüdischen Flüchtlingen, den Exodus seit jeher kennend, gut funktionierte. So erfuhren wir, dass Vater nach mehreren Wochen im Internierungslager Saint-Cyprien des Nachts die Flucht gelungen war, wiewohl das Lager von der Mobilgarde, dem Vorgänger der jetzigen Bereitschaftspolizei CRS, gut bewacht war, und er es trotz zahlreicher Zwischenfälle bis nach Toulouse schaffte, wo es ihm schließlich gelang, unseren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Wir waren außer uns vor Freude, dass er gesund und in Sicherheit war. Meine Mutter fand ihr Lächeln wieder. Die Zukunft erschien uns hoffnungsvoll, umso mehr, als Vater uns vorschlug, zu ihm nach Toulouse zu kommen, was wir, ohne uns um irgendwelche behördlichen Genehmigungen zu kümmern, unverzüglich taten. Toulouse war voller Flüchtlinge und Evakuierter. Mein Vater hatte ein Zimmer finden können, das mehr als kärglich war, aber angesichts unserer bescheidenen finanziellen Mittel mussten wir uns damit zufrieden geben. Eine ganze Armada von Wanzen erwartete uns. Wir nahmen unverzagt den schon im Vorhinein verlorenen Kampf gegen sie auf. Die Frage nach den Papieren stellte sich. Als ausländische Flüchtlinge — aus Belgien — waren wir gezwungen, zurück nach Villeneuve-de-Berg zu fahren, um bei der Präfektur Ard£che einen Passierschein für Toulouse zu beantragen. Da wir damals naiv und vertrauensvoll waren, kehrte ich mit meiner Mutter nach Villeneuve zurück, während mein Vater in Toulouse blieb, um alles für uns vorzubereiten und nach Arbeit zu suchen. Nun aber blieb unser Antrag ohne Antwort. Heute noch bin ich überzeugt, dass er nie weitergeleitet worden ist. Als wir bei der Stadtverwaltung nachfragten, teilte man uns lediglich mit: „Die Ämter sind überlastet, man muss warten, es wird schon kommen, keine Sorge!“ Und wir warteten — blödsinnigerweise, möchte ich sagen. Hätten wir nur gewusst, was uns erwartete! Der Herbst kam und mit ihm die Gelegenheit, mir ein wenig Geld zu verdienen, indem ich bei der Weinlese half. Wir waren mehrere junge Leute aus dem Dorf, Burschen und Mädchen, die sich jeden Morgen in den Weingärten einfanden, die einige Kilometer vom Dorf entfernt waren. Wir arbeiteten den ganzen Tag über schwer, wurden aber gut verköstigt und außerdem aßen wir, so viel wir konnten, von den exzellenten roten Trauben voller Süße. Ich war stolz, meiner Mutter etwas Geld heimbringen zu können, sie selbst konnte diese Arbeit nicht machen, denn Mutter begann sich oft müde zu fühlen, eine Müdigkeit, die wir den Lebensumständen und den damit verbundenen Sorgen zuschrieben. Nach und nach verließen die Flüchtlinge aus dem Norden das Dorf und kehrten heim, nur die „Vertriebenen“ blieben, also Spanier und „Apatrides“, Heimatlose, wie wir genannt wurden, wir Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, die wir in diese Länder weder heimkehren konnten, noch wollten. Gegen Ende September kündigte man uns die Schließung des Aufnahmezentrums in Villeneuve-de-Berg an. Nur jene durften bleiben, die über die finanziellen Mittel für Kost und Logis verfügten, was auf uns leider nicht zutraf. Alle anderen kämen in ein Obdachlosenheim für vertriebene Personen, ein „Centre d’Hebergement pour Personnes Déplacées“. Wir konnten uns nicht ausmalen, was sich hinter dieser im Grunde nichtssagenden Bezeichnung verbarg... Mein Vater, den wir sofort verstandigt hatten, dachte wie auch wir, dass wir uns ohne Risiko in dieses „Centre“ begeben könnten, 24 ZWISCHENWELT bis unser behördlicher Status geklärt sei und wir legal mit ihm zusammenkommen könnten. Doch Herbert Traube und seine Mutter werden zunächst im Lager Gurs interniert. Traube gelingt die Flucht aus dem Internierungslager Rivesaltes noch vor Beginn der Deportationen nach Drancy im August 1941. In Marseille schließt er sich einer Widerstandsgruppe an. 1942 wird er bei einer Razzia erneut verhaftet. Im Internierungslager Les Milles muss er schließlich einen Viehwagen nach Rivesaltes besteigen— Richtung Drancy, von wo die Transporte weiter nach Auschwitz gehen. Der Ausbruch Es gelang mir, um einen besseren Überblick zu gewinnen, meinen Kopf zwischen den zwei waagrechten Gitterstäben einer Luke, die der offenen Pforte gegenüberlag, hindurchzuschieben. Dieweil ich mich umschaute und die Frischluft einsaugte, hörte ich einen der Männer hinter mir sagen: „Wenn der Kopf durchgeht, geht es sicher auch mit dem Körper.“ Das war der Auslöser! Ich zog meinen Kopf zurück, überzeugt, es gelte jetzt oder nie zu handeln. Der Bursche, mit dem ich mich seinerzeit in Gurs im Dachgestühl versteckt hatte, hatte es auch gehört und ohne weiteres Nachdenken schob er sich als Erster, Kopf voran, durch die Luke, wir stießen ihn vorwärts und hielten dann seine Füße, er hing kopfüber hinunter... Dann schrie er: „Das ist es, lasst mich los, es ist gut!“ Und wir ließen ihn fallen. Ich steckte den Kopf wieder hinaus und sah, dass der arme Kerl auf einer betonierten Stelle am Rand des Gleiskérpers aufgekommen war und regungslos am Riicken lag. Der Zug fuhr ziemlich schnell und ich verlor ihn bald aus den Augen. Ich sagte mir, dass ich es nicht so wie er machen konnte. Zuerst einmal war es nötig, dass mehrere Personen eine Art Mauer bildeten, damit der Gendarm, der in der offenen Schiebetür des Waggons saß, auf keinen Fall schen konnte, was sich hinten bei der Luke abspielte. Sodann war es, um sicher auf den Füßen zu landen, offensichtlich besser, sich mit den Füßen voran hinauszuschieben und dann mit dem Kopf und nicht umgekehrt. Danach, einmal draußen, mich an einen der Gitterstäbe klammernd, konnte ich selber den Augenblick des Absprungs wählen, um die Telegrafenmasten zu vermeiden, die die Bahnstrecke begleiteten, und einen Ort auszusuchen, an dem die Böschung hoch genug war, mich den Blicken zu entziehen. Und vor allem konnte ich nach Möglichkeit ein Langsamerwerden des Zuges abwarten. Die „Mauer“ war schnell errichtet. Mit einem Klimmzug zog ich mich hoch, führte meine Beine durch die Luke, der Bauch folgte ohne Schwierigkeit, aber die Brust blieb hängen und ich einen Moment eingeklemmt. Schließlich stieß man mich hinaus und ich fand mich wie vorgesehen an den Fäusten hängend an die Außenwand des Waggons gepresst. Das Glück lächelte mir. Eine Steigung zwang den Zug, langsamer zu werden, das Terrain neben dem Gleiskörper war dicht bewachsen. Doch die Telegraphenmasten huschten noch immer sehr rasch und nahe vorbei. Ich musste mich entscheiden. „Vorwärts!“, sagte ich zu mir, „im Turnunterricht auf dem Gymnasium beherrschtest du einen tadellosen Überschlag, jetzt ist der Moment!“ Ich stemmte mich gegen die Waggonwand und