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uns Fahrkarten zur ersten Bahnstation der französischen Riviera. Kommen wir hinein, ist's gut, geht's nicht, na dann fahren wir halt nach Italien.“ Am nächsten Tag ging's los. Wir kamen über Mailand und Genua an die italienische Riviera, ich vergaß die ganze Katastrophe, vergaß den Visumzwang, so war ich von der herrlichen Landschaft begeistert. Mein Bruder schüttelte den Kopf. Ihm imponierte nicht die Landschaft, schließlich kam er ja aus Java; der Visumzwang machte ihn ganz fertig. Nun kamen wir doch zur Grenze. „Aber jetzt wird’s ernst.“ Mein Bruder hatte einen österreichischen Paß, ausgestellt in Batavia”, dem jetzigen Djakarta, was ja damals superexotisch war. Mein falscher Paß hatte den Ausstellungsort Wien, meine Schwester hatte einen echten Paß. Da mein Paß auf einen falschen Namen ausgestellt war, hatte ich meine Schwester zu meiner Braut ernannt. Die französische Paßkontrolle kam. Ich weiß nicht mehr, in welcher Sprache uns der Mann anredete, nachdem er die Pässe angeschen hatte, wohin die Herrschaften zu reisen gedenken. Wir erklärten, wir wollten uns ein paar Tage an der Riviera aufhalten und dann nach Holland weiterreisen. Der Kontrollor nickte und wir waren in Frankreich. Wir blieben wirklich ein paar Tage an der französischen Riviera, in der französischen Grenzstadt Menton und in Nizza. Ja, dann war es aber aus mit dem Urlaub, und wir fuhren nach Paris. Wir trafen dort die Cousine und setzten uns auch gleich brieflich mit den Eltern in Verbindung. Ich selbst meldete mich gleich bei der Organisation, die die Freiwilligen für die Internationalen Brigaden rekrutierte und nach Spanien hinüberschleuste.”° Ich rechnete mit ungefähr zwei Wochen Aufenthalt in Paris, weil ja schließlich alles seine Zeit brauchte. Endlich war es so weit. Ich wurde sozusagen einberufen. Ich verabschiedete mich von den Meinen. Die Sache spielte sich nämlich so ab: Wenn man sich bei der Rekrutierungsstelle meldete, wurde man zunächst ein biß] ausgefragt und dann ärztlich untersucht. War alles in Ordnung, war man bereits quasi kaserniert und dann ging es über die „grüne Grenze“ nach Spanien — offiziell war ja die Grenze von Frankreich aus gegen Spanien gesperrt. Als ich hinkam, war außer mir noch ein Rudel riesiger schottischer Burschen anwesend. Ich kam mir noch kleiner vor, als ich schon war — und bin: 159 cm. Nun, den Rekrutierern wahrscheinlich auch. Also: Kein Arztdiplom.”” „Du mußt verstehen, bei der sehr, schr schweren Lage an der Front (im März 1938 stand es allerdings schon sehr schlecht um die Republikaner”*) danke, daß Du Dich gemeldet hast...“ Und ich war draußen und stand vor einer völlig anderen Situation. Jetzt erst war ich wirklich Emigrant. Natürlich fühlte ich mich nicht als einer der immer größer werdenden Masse der unschuldig, nur wegen ihrer „Rasse“, verfolgten Juden, die sich auf Umwegen nach Frankreich durchschlugen. Ich fühlte mich als politischer Emigrant des ersten vom braunen Deutschland eroberten Landes. Was aber nichts daran änderte, daß ich wie alle anderen politischen Emigranten verwaltungsmäßig das Schicksal aller anderen Emigranten teilte. Die französische Regierung und ihre Polizei wußten zunächst einmal, was sie nicht wollten. Sie wollten nicht, daß sich die Emigranten im Pariser Raum festsetzten. Das erste Papier, das man daher von den Pariser Polizeibehörden in die Hand bekam, war ein sogenannter „Refus de sejour“, das heißt eine Aufenthaltsverweigerung”. Nach einer Frist, die man mit irgendwelchen Schmähs verlängern konnte, mußte man aus der Pariser Region verschwinden. Wie? Wohin? Ich glaube, eines der ersten französischen Worte, die man lernte, war: „Debrouillez-vous!“ Auf offiziell Deutsch heißt das „sich zu helfen wissen“, aber es ist fast besser auf Österreichisch zu übersetzen: „Wursteln Sie sich durch!“ Für mich als „Politischen“ war es relativ leicht. Die KPÖ hatte schon vor dem „Anschluß“ eine funktionierende Gruppe in Paris. Sie stand klarerweise mit der französischen KP°” in Verbindung. Zusammen setzten sie die „Secours Populaire“?', die Volkshilfe, für die nun einsetzende Emigration in Bewegung. Das war eine eher überparteiliche Organisation, der auch führende linksliberale Persönlichkeiten angehörten. Wie wir Österreicher gleich merkten, konnte man das Parteienschema der anderen europäischen Staaten hier nicht anwenden. Man lächelte schon nach ein paar Wochen überlegen, als ein Emigrant erklärte, er würde nach der Stadt Le Havre ziehen, weil dort ein radikaler Sozialist Bürgermeister sei. Diese Partei war aber weder radikal noch sozialistisch, sondern liberal.°” Außer der KPF?? hatte höchstens die SP” noch wirkliche Parteistrukturen in unserem Sinn. Es waren mehr oder minder Clubs, gleichgesinnte Persönlichkeiten. Diese politische Landschaft hat sich ja in Frankreich bis heute erhalten. Politische Betätigung war uns von vornherein verboten und wir hatten daher nur über unsere Gruppe mit Franzosen Verbindung. Ich versuchte daher selbst wenigstens mit Lesen von Zeitungen ein bißchen mehr zu erfahren. Das war ein schweres Geschäft. Wenn ich schreibe, daß meine Französischkenntnisse damals minimal waren, so ist das noch sehr geschmeichelt. Durch das Zeitunglesen, auch wenn ich am Anfang nur kleine Meldungen entziffern konnte oder zu können glaubte, ich irrte mich beim Ubersetzen mehr als oft, war ich doch irgendwie auf dem Laufenden und lernte die Sprache, was mindestens ebenso wichtig war. Denn auch sprachlich abhängig zu sein, war für mich unerträglich. Die Situation war schon so schlimm genug. Im Allgemeinen spekulierte jeder, wie er aus Frankreich weiterziehen könnte. Es gab praktisch keine Arbeitsmöglichkeit, von studieren war überhaupt keine Rede. Man brauchte nicht besonders schlau zu sein, um zu sehen, daß der politische Wind von rechts blies und ziemlich kräftig noch dazu. Es war ja schon für uns ein Schock, als die Annexion Österreichs ohne viel Wenn und Aber von allen Staaten mit Ausnahme der Sowjetunion und Mexikos” anerkannt wurde. Außerdem, was war denn damals links und rechts? Was man in der Gruppe und sonst herum hörte, gab es Linke, Sozialisten usw., die Hitler recht gaben, die Pariser Friedensverträge” zu annullieren, inklusive der Annexion Österreichs. Es wurde geflüstert, daß Leon Blum?”, Führer der SP und Ministerpräsident der Volksfront 1936, mehr gegen den Austrofaschismus war wegen seiner Anhänglichkeit zu Habsburg und er gegen Hitler nur lau reagierte, damit es nicht heißt, er sei nur Hitlergegner, weil er jüdischer Abstammung sei. Dabei gab es Leute, die murmelten, lieber Hitler als Blum. Wie viele so dachten, ließ sich schwer sagen. Daß aber viele der „Oberen“ dachten, es wäre alles bestens, wenn er, der Hitler, nur gegen Osten, also gegen die Bolschewisten marschieren würde. Wie mir einer, als die deutsche Wehrmacht in Rußland einfiel?®, sagte: „Na, jetzt fällt die Kanaille auf beiden Seiten.“ Rosig war das alles nicht und dabei mußte ich mich noch um meine Familie kümmern. Ich mußte meinen Bruder mit all meinen Uberredungskiinsten davon abhalten, nach Wien zu fahren. Er hatte sich ja doch im Konsulat erkundigt und dort hatte man ihm gesagt, er könne ruhig nach Wien fahren, wenn er sich nichts habe zuschulden kommen lassen. Dabei stand er noch unter dem Druck der Eltern. In den Briefen fragten sie, wann er denn endlich kommen würde und sie warfen ihm fast unverhüllt Feigheit September 2020 29