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vor. Sie, wie Millionen andere, konnten sich nicht vorstellen, daß man nur wegen seiner Religion oder Rasse vernichtet werden könnte, wo doch die Nachbarn genauso nett seien zu ihnen wie früher. Meine Mutter schrieb schließlich, sie sei der Meinung, die Schwiegermutter würde sich schon beruhigen. Schwiegermutter war das Codewort, das sie für die Nazis verwendete. Ich konnte ihr nur antworten, daß ich nicht wüßte, wie lange die Schwiegermutter leben würde, aber solange sie lebe, würde sie sich nicht beruhigen. Nun, die Weltgeschichte beendete den brieflichen Disput. Die Krise um und in der Tschechoslowakei wurde immer schärfer und es roch nach Krieg. Die französische Regierung mobilisierte mehrere Jahrgänge.” Aus verschiedenen Waggons der Züge, die die Mobilisierten in die Kasernen brachten, hörte man die Internationale singen. Ob das mit ein Grund war, das Münchner Abkommen zu schließen? Jedenfalls entschlossen sich nun die Eltern, schon aus Angst, durch einen Krieg uns nicht mehr zu sehen — inzwischen war auch die Schwester nach England abgefahren — Wien zu verlassen. Und ich mußte Paris verlassen. Es kamen die Tage des Münchner Pakts zwischen Chamberlain“, Ministerpräsident von England, Daladier‘', Ministerpräsident von Frankreich, der die Tschechoslowakei, die mit Frankreich verbündet war“, durch Abtreten der deutschsprachigen Randgebiete (Sudetenland) an Deutschland praktisch dem 3. Reich auslieferte. Chamberlain sprach von einem gesicherten Frieden für eine Generation und L&on Blum sprach von einem Gefühl feiger Erleichterung. Soweit ich selbst schon ein bißchen Kontakt mit „dem Mann auf der Straße“ hatte, hatte ich das Gefühl, daß der Durchschnittsfranzose dem Sozialistenführer wegen dieses Gefühls nicht böse sein würde. Was bedeuteten ihm damals, vor fast einem halben Jahrhundert“, die Tschechoslowakei oder Österreich? Es war einem gar nicht zum Lachen, wenn er einem zum Beispiel sagte, „Ah, Sie sind Österreicher? Da habe ich doch einen Landsmann von Ihnen gekannt, der war aus Bukarest.“ Da war ein politisch schon sehr gebildeter Mensch, wenn er einem sagte: „Aus Österreich sind Sie? Ach, der arme Dollfuß“!“ Ja, der Durchschnittsfranzose kannte nicht einmal richtig sein eigenes Land, hatte er doch erst seit 1936, seit der Volksfront®’, 14 Tage bezahlten Urlaub. Soweit sie politisch links eingestellt waren, erregte sie mehr der Krieg jenseits ihrer Grenze, den Franco gegen die spanische Republik führte, und immer wieder hörte man den Ruf „Öffnet die Grenze!“, um den Republikanern zu helfen. So waren sie eben froh, daß die Mobilisation wieder abgeblasen war und sie ihre Burschen wieder zu Hause hatten. In Rouen als Bananenschupfer Man schickte mich und noch vier andere nach Rouen, weil die „Secours Populaire“ dort eine gute Organisation hatte und uns eine Wohnung und eine Arbeit beschaffen konnte. Und mir sagte man noch: „Du bist ja dann näher zu England in Rouen, der Hauptstadt der Normandie.“ Meine Familie hatte sich inzwischen nach England durchgeschlagen (mein Bruder war wieder nach Java zurückgekehrt) und bemühte sich um eine Einreise. Auch die Organisation“ erklärte, sie würde in der Hinsicht etwas versuchen. Rouen, eine der schönsten Städte Frankreichs, liegt 120 km stromabwärts an der Seine, hat natürlich weniger schöne Arbeitervororte, mag sein, daß sie jetzt besser ausschen. 30 ZWISCHENWELT In einem kleinen Zinshaus bekamen wir eine Wohnung. Wir richteten uns so gut es ging häuslich ein, ob das Viertel schön war oder nicht, war unsere geringste Sorge. Wesentlich war Arbeiten und Französisch lernen. Mit dem Französischlernen hatten wir Glück. Unter uns war die Toni”, ein Sprachgenie, die Französisch wie Deutsch sprach und sogar ein bißchen pädagogisches Talent hatte. Sie schickte uns zum Beispiel einkaufen. Damals gab es ja noch keine Supermärkte und da mußte man sprechen. Einmal kehrte ich von so einem Einkauf und Lehrgang zurück, weil ich vergessen hatte, wie Brösel auf Französisch heißen. Ansonsten muß ich sagen, daß ich keine Hemmung hatte, mit Franzosen zu plaudern, auch wenn sie nicht einmal die Hälfte davon verstanden, was ich ihnen erzählte. In der Hinsicht habe ich ganz etwas Arges in Erinnerung: Ich bat einmal die Hausbesorgerin um eine Zange, sie sah mich einen Moment fragend an und brachte mir einen Trichter®. Mit der Arbeit sah es weniger lustig aus. Arbeit in einem Spital gab es für mich als Ausländer keine, also irgendeine Hilfsarbeit. Aber wohin mit mir, mit meiner nicht gerade athletischen Gestalt? Sie müssen sich sicherlich lange den Kopf darüber zerbrochen haben, die Leute von „Secours Populaire“. Rouen ist ein Hafen, auch für Überseeschiffe, die nicht allzu groß sind. Es war, damals jedenfalls, der Weinhafen der Pariser Region. Und dort landeten auch die Schiffe, die von den französischen Karibikinseln Martinique und Guadeloupe Bananen brachten. Und so wurde ich Docker am Bananenhafen. Tagelöhner wäre eigentlich die richtigere Bezeichnung. Zunächst einmal mußte man sich in die Gewerkschaft einschreiben und bekam eine Mitgliedskarte und ging mit dieser bewaffnet in den Hafen, wenn man vorher im Büro erfahren hatte, daß ein Bananenschiff angekommen sei, und das ereignete sich so zwei-, dreimal in der Woche. Dort wartete man mit den anderen „Kandidaten“, dann kam der Vorarbeiter und sammelte die Karten, die man in die Höhe hob, ab. Brauchte er nicht alle, dann blieben halt ein paar mit ihren Karten zurück und die anderen waren für einen Tag angeheuert. Ob sich das jetzt auch so abspielt? Die Arbeit bestand darin, die in Papier verpackten meterlangen Büschel Bananen, die auf einem Laufband aus dem Bauch der weißgestrichenen Kühlschiffe kamen, in verschiedene Kojen zu schmeißen, je nachdem, welchen Adtessenzettel sie draufgepickt hatten. Wie bei jeder Bandelarbeit hing die Schwere der Arbeit vom Tempo ab. Hatten es die Obermacher eilig, so lief das Förderband schnell und das konnte einen dann schon ganz schön fertigmachen. Aber ich war soweit mit meinem Schicksal zufrieden. Mir war es wesentlich, nicht mehr geldlich von anderen abhängig sein zu müssen. Ansonsten versuchten wir es uns, soweit es ging, gemütlich zu machen. Rouen ist wie gesagt eine schöne Stadt mit guten Konditoreien, ein zusätzliches Irostpflaster, netten Kaffeehäusern und schöner Umgebung. Es schlossen sich uns ein paar nette unpolitische Emigranten an. So saß man beieinander bei einem Glaserl französischen Weins. Zwei Frauen konnten recht gut singen und so sangen sie Wiener Lieder. In Wien hätten wir das als spießerisch abgetan, aber fern der Heimat, wie das so schön heißt, hörten wir fast andächtig zu und wir „beinharte Superpolitiker“ bekamen ganz unpolitisches Heimweh. Auch einer von unserer Gruppe, der Franz’, konnte gut singen. Er beteiligte sich einmal in einem Kaffeehaus an einem Gesangswettbewerb und trug den Erzherzog-Johann-Jodler” vor. Er bekam rauschenden Applaus und eine Flasche Sekt als Preis...