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„polnischen Angriffs“. Hitler hatte für diesen Vormittag eine Rede angekündigt. Wir alle ließen alles liegen und stehen und standen um den Lautsprecher herum. Wir hörten uns das hysterische Gebrüll des „Führers“ an, daß er gezwungen sei, zurückzuschießen, weil polnische Freischärler den deutschen Sender in Gleiwitz angegriffen hätten, usw. und so fort. Es war alles so lächerlich, aber uns war gar nicht zum Lachen. Es war ja nun tatsächlich Krieg. Zwei Tage später war ja auch die Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens da. Dachten die Leute, dachte ich vielleicht den fatalen Satz vom Beginn des Ersten Weltkriegs „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“? Jedenfalls war es für die meisten von uns klar, daß wir uns auf Aufforderung zum Kampf gegen Hitler stellen würden. Es vergingen ein paar Wochen, dann wurde es für uns ernst. Wir mußten sozusagen die Zelte abbrechen, wir würden in ein Militärlager gebracht. Wir waren nicht überrascht, wir hatten ja auf so etwas gewartet und zur Schlosserei hatten wir vielleicht noch die Hand, aber nicht den Kopf. Soweit ich mich erinnern kann, fuhren wir etliche Stunden nordostwärts und landeten schließlich bei einer aufgelassenen Mühle, in einem Vorort der Bezirksstadt Neufchäteau. Von dort aus konnte man die Kirche von Domrémy sehen, dem Geburtsort der Jungfrau von Orleans‘. Das war schon merkwürdig. Ich war vorher in Rouen, das war ja der Ort, in dem die Jungfrau von Orleans auf dem Scheiterhaufen endete. Zum Schlafen gab es ein Strohlager mit einfachen Decken. Am nächsten Tag ließ man uns in einer Doppelreihe aufstellen, erzählte uns etwas nicht sehr Klares über einen Dienst in der französischen Armee und dann sang man, so man konnte, die Marseillaise. Einen Tag später verkündete uns ein Unteroffizier, der anscheinend der Kommandant des Lagers war, in Deutsch — mehr schlecht als recht — die Tageseinteilung. Das klang z.B. so: „7:00 Aufstand, 11:00 Fronarbeit — Kartoffelschalen“ — er hatte halt schlecht im Wörterbuch nachgeschaut: Das französische Wort „corvee“ bedeutete im Mittelalter die Fron, jetzt aber nur den Dienst in der Kaserne. Man hatte zwar etwas zum Lachen, aber die Sache machte uns doch nachdenklich. Das war anscheinend doch kein Durchgangslager für ein paar Tage, also was war es denn? Verlassen konnten wir das Lager nicht, Uniformen bekamen wir keine. Also war es eine Internierung, die sozusagen ihren Namen verschwieg. Oder wie es gar einer bitter sagte: „Mir scheint, wir sind die ersten Gefangenen der französischen Armee.“ Wir sind ja schließlich Staatsangehörige der Feindmacht Deutschland. Die Adresse war auch völlig zivil, man könnte meinen von einem Urlauber... Da nun das, was wir zuerst glaubten, ein Provisorium zu sein, zu einem Dauerzustand zu werden schien, wurden einem die unmöglichen Zustände bewußt, die katastrophal wurden, als der Winter anbrach, der erste Kriegswinter, der besonders hart war. Bei einer Temperatur, die unter -15°C fiel, konnte das Schlaflager nicht beheizt werden. Ich sah einmal meinen Atem als Reif auf meiner Decke. Als Klo gab es eine Latrine: Im Freien ein Graben mit einem Balken drüber. Für alles und alle. Wasser kam aus einem Brunnen, im Winter war er vereist, wir mußten das Eis aufhacken, um zum Wasser zu gelangen. Die „Sanität“ wurde von einem „Sanitäter“ geführt. Beides konnte man nur mit Anführungszeichen so nennen. Der Wiener Arzt und ich versuchten da mitzuhelfen. Daß es aber trotz dieser Verhältnisse zu keiner ernsteren Erkrankung kam, dafür konnten wir nichts. Das war ganz einfach ein Wunder. Dazu noch die „corvee“, die sinnlos und quälend waren. So mußten wir eine Zeit lang einen 32. ZWISCHENWELT Pfad mit glitschig kalten Steinen aus einem Steinbruch auslegen. Als wir uns sauer dariiber unterhielten, mischte sich einer ein, ein Schuster aus Ottakring, der aussah wie die Zeichnung des Schwejk in Hascheks berühmtem Buch®, und er redete auch so. Er erzählte skurrile Geschichten, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg erlebt hatte. Die hätte man alle notieren sollen, denke ich mir jetzt. Die hätten ein Bändchen ergeben, sozusagen als Nachtrag zum Schwejk. Und alle seine Geschichten endeten mit der Mahnung: „Merkt’s euch, Leutln, beim Militär g’schiecht nix Gscheit’s.“ Im Laufe der Kriegsjahre dachte ich oft an diese seine „goldenen Worte“. Das half aber alles nichts, wir sahen, daß unsere eigene skurrile Lage schließlich nur eine Art von Symptom der allgemeinen skurrilen Lage war. Verfolgte man die Meldungen und Kommentare in den Zeitungen, so hatte man den Eindruck, Frankreich läge eher mit den Russen als mit den Deutschen im Krieg. An der Front, die höchstens 300 km von unserem Lager entfernt war, nämlich die Grenze am Rhein, tat sich nämlich nichts. Es wurden hie und da Stoßtrupptätigkeiten von deutscher Seite gemeldet, in denen Hitlerjugend-Freiwillige verheizt wurden. Es war eben der „dröle de guerre““, wie ihn die Franzosen nannten, also der komische oder seltsame Krieg. Diese miese „innen- und außenpolitische“ Situation trug natürlich nicht dazu bei, die Simmung der Lagerinsassen zu heben, und begann irgendwie das Zusammenleben zu belasten. Es klingt zwar seltsam, aber es begannen sich nationale Gegensätze herauszubilden. Die Österreicher — es waren glaube ich nur Wiener — hatten den teilweise eingebildeten Eindruck, daß sie von der Mehrzahl der Deutschen von oben herab behandelt wurden. Es kam dann soweit, daß sie diese von ihrer Heimat vertriebenen Menschen als Repräsentanten dieses Deutschlands ansahen. So fiel das bittere Wort „Ihr seid’s ja nur durch die Geburt verhinderte Nazis“. Natürlich gab es da einige Typen, so der eine, der im Ersten Weltkrieg mit Göring‘ zusammen in der bekannten Richthofenflugstaffel gedient hatte. Er erzählte, er hätte gehen müssen, nachdem Freunde, die er in der SS hatte, ihm erklärt hatten, sie könnten ihn nicht mehr schützen. Aber das waren wirklich nur einige. Trotzdem mußte ich oft mit mir selber hadern: „Gib zu, dir geht auch das Gehabe und der Akzent von den Deutschen auf die Nerven.“ In dieser — fast kann man sagen — absurden Situation tauchte auf einmal ein ziviler Abgesandter der Militärbehörden auf, ein deutschstämmiger, der sich die Leute einzeln vorlud und Folgendes vorbrachte: „Man freue sich, daß wir uns freiwillig zum Dienst für Frankreich gemeldet hatten. Man würde uns vorschlagen, daß wir uns für den Eintritt in die Fremdenlegion® nach Nordafrika melden sollen. Es würden eigene Abteilungen für uns gebildet werden und Frankreich könnte dadurch entlastet werden, etc. etc.“ Anfangs meldeten sich wenige. Er nahm sich aber die Leute mehrmals vor. Ich selbst erklärte diesem Mann, ich hätte mich wie alle zum Kampf gegen Hitlerdeutschland gemeldet und sei jederzeit bereit, gegen Hitler mit der Waffe in der Hand anzutreten. In Afrika aber hätte ich nichts verloren. Ich dächte nicht daran, dort gegen aufständische Araber zu kämpfen, sie hätten mir nichts getan. Eine kleinere Minderheit schloß sich meiner Argumentation an und lehnte ab. Die anderen gaben nach, und sei es nur mit der Begründung, unten ist es wenigstens nicht so kalt. Sie wurden weggebracht, bald darauf aber auch wir. Das Lager in der vereisten Mühle hatte seinen Zweck erfüllt und wurde aufgelöst. Wir wurden nach Neufchäteau gebracht. Man brachte uns in einer leerstehenden Schule oder so was ähnlichem unter. Jedenfalls