OCR
waren die Verhältnisse geradezu feudal verglichen mit der Mühle. Wie es sich gehört, verging wieder einige Zeit mit nichts Besonderem. Dann tauchte ein Commandant (Major) auf, der uns erklärte, wir werden nun mehr oder minder in die Armee integriert und zwar als prestataire.°° So, was war das schon wieder? Das Wörterbuch sagt: prestation heißt unter anderem Leistung, z.B. prestation de service — Dienstleistung. Das Wort prestataire schien aber nirgends auf. Also wieder einmal eine Wortneuschöpfung. Nach langem Überlegen kamen wir zum Schluß, daß wir zu Arbeitsdienstlern der französischen Armee geworden waren. Ob wir das als Internierte oder als freie Menschen waren, war nicht herauszubekommen. Es hieß halt wieder einmal abwarten. Inzwischen zog der Frühling ins Land und auf einmal kam das Kommando „Aufbruch“. Mit Sack und Pack ging es nun nicht etwa Richtung Osten und Front, sondern nach dem Westen in die Gegend von Le Mans. Als prestataire in die Niederlage Am Zielort angekommen, erfuhren wir erst, was „man“ über unser weiteres Schicksal beschlossen hatte. Die französische Armee hatte offensichtlich für uns keine Verwendung und verborgte uns der englischen Armee‘, die dort ein riesiges Lager errichtet hatte, in dem Hilfs-, aber kein Kriegsmaterial gelagert war. Wir waren zwar überrascht über unsere neue Existenz, aber unzufrieden waren wir nicht, hatte uns doch — abgesehen von der allgemeinen Politik — das Verhalten der französischen Zivil- und Militärbehörden kein allzu großes Vertrauen eingeflößt. So wurden wir im Handumdrehen „Member ofthe 701 Foreign Labour Company in France““®, also Mitglieder der 701. Fremdarbeiterkompanie der britischen Armee. Wir von den Vogesen waren anscheinend die letzte Gruppe, die ins Lager gekommen war. Der Kader waren englische Unteroffiziere oder Wachtposten, unter denen es auch österreichische Emigranten gab. Die „Truppe“, ein paar hundert, bestand hauptsächlich aus deutschen und österreichischen Emigranten aus dem Pariser Raum: „Politische“ und „Unpolitische“ aller möglichen Provenienz, darunter Karl Farkas“, es gab aber auch Elsaß-Lothringer mit umgekehrter Staatsbürgerschaft”” und eine indische Hilfstruppe. Nun waren wir aber wirklich Angehörige einer Armee, wir wurden nämlich eingekleidet. Die Unterwäsche und die Pullover waren die gleichen wie die der britischen Soldaten, aber als Uniform bekamen wir einen hellgelben Schnürlsamtanzug und eine dunkelblaue Pullmannkappe. Umgehängt bekamen wir eine Gasmaske, die angeblich in England für die Zivilisten bestimmt war, und die mit dem Futteral, in dem sie steckte, wie ein alter Fotoapparat aussah. Wir wußten nicht, sollten wir uns über den Anzug, oder besser gesagt Aufzug, ärgern oder darüber lachen. Automatisch fiel mir der „Schwejk von der Mühle“ ein mit seinem Spruch ,,Merkt’s euch, Leutl’n, beim Militar g’schiecht nix G’scheit’s.“ Das Lager hatte wie gesagt ziemlich große Ausmaße und irgendwer meinte, es wäre nach dem Muster britischer Koloniallager errichtet worden. Es gab sogar eine eigene Piste für die Esel der Inder”'. Für das Material waren große Hangars da, die vollgefüllt waren mit unkriegerischen Dingen. Von Nudelwalkern bis — falschen — Zähnen war alles da, was das Herz begehrt. Es wurde sogar behauptet, daß sich die Engländer das Trinkwasser von England einfliegen ließen. Ein Wiener, seines Zeichens nach kaufmännischer Vertreter, mit dem dazugehörigen Mundwerk, meinte: „Die haben sich da einen falschen Einkäufer ausgesucht.“ Als Unterkünfte dienten langgestreckte, halbrunde Baracken für 20 Mann. Diese Baracken wurden später ziemlich bekannt, auch für zivile Zwecke, wir hatten sie „Faßlbaracken“ getauft. Strohlager gab es keines, wie bei den Franzosen, das wäre zu schmutzig, dafür gab es auch keine Betten, also lag man ganz einfach auf Decken auf dem Holzboden. Die Liegestatt mußte kasernenmäßig genau aufgebaut werden. Am nächsten Tag ließ man uns in der Frühe in einer Doppelreihe antreten. Ein Sergeant (Feldwebel) betrachtete uns eine Weile und fragte uns, wer richtig Englisch sprechen könne. Es meldeten sich die Betreffenden, er erklärte ihnen, er würde mit ihnen exerzieren und sie müßten dann das mit uns tun. Wir waren perplex. „Die sind narrisch worden!“ Was sollte das Ganze für einen Sinn haben? Wir sind schließlich als Arbeitsdienstler da! Die sollen uns was zu arbeiten geben und Schluß! Das Geraunze ging in dieser Tonart ohne Ende weiter. Genützt hat es natürlich nichts. In zwei, drei Tagen hatte der Sergeant, ein alter „Kolonialtiger“, herausgefunden, wem es von den Englisch sprechenden Spaß machte, zu kommandieren, und so war eine Gefreitentruppe von österreichischen und deutschen „natives“” aufgestellt, und es konnte richtig losgehen mit dem Exerzieren. Auf diese Art konnte ich fast wissenschaftlich beobachten, wie die routinierte Militärmaschinerie aus 100%igen und noch dazu raunzenden und murrenden Zivilisten gehorsame Soldaten machte. Das Murren hörte langsam auf und ich traute meinen Ohren nicht, Karl Farkas keppelte mit dem Mann vor ihm, weil er nicht ordentlichen Schritts ging. Na und was gab es da für ein Hallo, als ein deutscher Intellektueller, ein Philologe, beim Befehl „Swing Arm“ eine ausgesprochene Hemmung bekam und mit dem verkehrten Arm wedelte. Hier endet das Typoskript mit Josef Friedlers Erinnerungen, das sich im Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft befindet. Sein Sohn Wolfgang Friedler steuerte die folgenden Typokriptseiten bei. Und wie stolz gebläht waren die Insassen unserer Faßlbaracke’’, als der Sergeant erklärte, wir hätten die ordentlichste Baracke von allen. Als der uns kommandierende Major und der ihm untergeordnete Käpt'n (Hauptmann) von ihren diversen Sergeants die Kunde vernahmen, dass wir alle Raffınessen des Exerzierens samt den in den kleinsten Einheiten des reglementierten Salutierens beherrschten, setzten sie eine Parade ihrer „Iruppe“ an. So zogen wir denn dahin in unseren gaggerl-gelben”‘ Anzügen „in gleichem Schritt und Tritt“ vorbei an dem Headquarter (Kommandoposten) der Inder, vor dem ein Posten mit Turban und Krummsäbel in der Hand stand, bis es „Halt!“ hieß. Wir stellten uns in einer weit auseinanderstehenden Doppelreihe auf, wie es sich nach englischer Vorschrift gehört und dann kam ein richtiger General, zwar schon alt und etwas verhutzelt, wahrscheinlich für den Krieg reaktiviert, und inspizierte uns. Das wird bei den Engländern ganz gründlich durchgeführt. Der General geht da langsam knapp an den Leuten vorbei, auch bei der hinteren Reihe, und schaut jeden von oben bis unten an. Nachher drückte der Major seiner „Iruppe“ seine Befriedigung über die gelungene Parade aus: „It was very, very good, indeed!“ Profunde Kenner des Englischen meinten, er hätte kein größeres Lob spenden können. Auch sonst waren wir „richtige Soldaten“. Wir bekamen einen Sold, wieviel, keine Ahnung mehr, und die Verpflegung war, glaube ich, die gleiche wie die der Engländer. Mit einem kleinen Unterschied. September 2020 33