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So, aber jetzt ging’s endgültig los, irgendwie per Bahn nach Marseille. Wie sich das ganze abspielte, weiß ich beim besten Willen nicht. Bei dem allgemeinen Chaos macht das wahrscheinlich keinen großen Eindruck. Ein Umstand erwies sich noch für längere Zeit als großer Vorteil: Kein Mensch, und was wichtiger war, keine Zivil- und Militärbehörde hatte eine Ahnung, was ein prestataire ist bzw. war. „Prestataire, prestataire, was ist das?“ war immer die Frage. „Ausländischer Freiwilliger der Armee“ war die schon genormte Antwort. Schließlich und endlich waren wir zu zweit, ich der ältere und anscheinend erfahrenere und der andere, ein junger Mann, der ein tadelloses Französisch sprach, in Marseille angekommen. Wir meldeten uns bei einer der vielen nur halb und halb oder gar nicht funktionierenden Dienststellen. Es gab allerdings massenhaft Soldaten, die ihren Wohnsitz in der besetzen Zone Frankreichs hatten und darauf warteten, nach Hause fahren zu können. Sie wurden hin und her geschickt. Schlafen, irgendwie, irgendwo. Ich erinnere mich nur, daß ich einmal auf einer Bank in einer Synagoge übernachtete. Als wir so durch die Straßen irrten, begegnete ich einem jungen Deutschen, aus dem Vogesenlager. Er stürzte sich fast auf mich und erklärte mir kurz, er wäre aus einem Internierungslager bei Marseille ausgebrochen, mit ihm der Sohn von Thomas Mann, Golo Mann”. Dieser brauchte für einige Tage ein Hotelzimmer, bis er mit Hilfe des amerikanischen Konsuls über Spanien in die USA gelangen könnte. Da wir sozusagen legal waren, stimmte ich zu. Er brachte mich mit Golo Mann zusammen und dieser erzählte mir von seinem Ungemach. Er lebte als Emigrant in der Schweiz; als die deutsche Wehrmacht in Frankreich einfiel, ging er nach Frankreich, um sich als Freiwilliger zum Kampf gegen die Hitlerarmee zu melden. Daraufhin wurde er von den französischen Behörden als Feindausländer interniert. In diesem Lager waren auch andere Prominente, so Lion Feuchtwanger, dem ja auch die Flucht über Spanien gelang, und Walter Hasenclever, der sich dort aus Verzweiflung das Leben nahm.” So teilten wir drei, vier Nächte das Hotelzimmer mit Golo Mann, dann verschwand er. Wahrscheinlich mußte er schnell weg, wie das bei solchen Angelegenheiten meistens der Fall ist. Er konnte nicht einmal seinen Koffer mit seinen paar Habseligkeiten abholen. 4 u EZ 5 . a 36 ZWISCHENWELT Nach diesem Intermezzo kamen wir in einer Art Auffanglager für Demobilisierte unter, wo wir auch verköstigt wurden. Das hatte unter anderem den Vorteil, mit „gewöhnlichen“ Franzosen zusammenzukommen, etwas Näheres über die Lage und die Stimmung zu erfahren. Im Allgemeinen waren die Leute resigniert, ihr Hauptaugenmerk war darauf gerichtet, möglichst bald nach Hause zu kommen. Bei den Elsässern und den Bewohnern des Departements Moselle, das im Deutschen Deutsch-Lothringen hieß, spießte sich die Angelegenheit. Die Hiderregierung hatte das Gebiet als Elsaß-Lothringen sofort nach der Eroberung an das Reich „angeschlossen“ .?* Durch das ähnliche Schicksal kamen wir uns bei den Gesprächen nahe, was dann noch öfters der Fall war, und für mich, wie es sich dann später herausstellte, von bestimmtem Vorteil war. Wenn wir vom deutschen Faschismus erzählten, hörten sich die Leute das zwar an, aber an ihren Mienen und Äußerungen konnte man entnehmen, daß sie ungefähr dachten, wenn man das auf Österreichisch ausdrückt: „Es wird schon ned so arg sein.“ Es dauerte nicht allzu lange, da bekamen wir wieder einen Marschbefehl. Wir, die wir keinen Wohnort in Frankreich aufweisen konnten, wurden in das weiter westwärts gelegene Departement H£rault geschickt. Dort würde uns ein Zentrum für Demobilisierte empfangen und uns für diverse Arbeiten einsetzen. Etwas skeptisch fuhren wir hin, aber siehe da, dort klappte es einigermaßen. Es war schon ein kleinerer Haufen von Ex-prestataires versammelt. Wir wurden in Vierergruppen geteilt und auf ging's zur Weinlese. Das Departement H£rault gehört zu den fünf Departements Südfrankreichs, die den Weinbau praktisch als Monokultur betreiben. Der normale Wein wächst dort wie eine wilde Staude ohne Stock oder Spalier. Die Trauben sind riesig. Soweit die Geografie. Die Weinernte selbst spielte sich im Jahre 1940 in einer Art ab, wie sie im Altertum wahrscheinlich auch nicht viel anders gewesen war. Man warf die gepflückten Trauben in einen 100kg fassenden Holzbottich. Dieser hatte zwei Eisensprossen. Unter die führte man ca. 2 m lange Holzstangen. Einer packte vorne, der andere hinten an, so schleppte man diesen Bottich mit der süßen, aber ganz schön schweren Last zum Wagen. Trotz der schweren Arbeit und des nicht gerade blendenden Essens, wobei wir uns an den herrlichen Trauben schadlos hielten, empfanden wir die paar Tage als angenehme Abwechslung. Man lernte die Bauern dieser Gegend kennen. Sie sprachen untereinander in dem Dialekt Südfrankreichs, der fast eine eigene Sprache ist und mehr dem Katalonischen Nordspaniens ähnelt.” Sie haben (oder hatten?) auch hübsche Volkslieder. Die Simmung: Man fand sich mit der Situation ab, weil man im Allgemeinen sicher war, daß die Alliierten schließlich den Krieg gewinnen würden. Nach der Weinernte bekamen wir einen Job, der schon im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Folgen des Waffenstillstandes stand. Schon in so relativ kurzer Zeit war der Treibstoffmangel sehr groß, so daß man begann, zuerst die LKW, später auch die PKW auf Holzgas als Treibstoff umzustellen. Man brauchte daher Holz, um die Holzgasgeneratoren der Autos zu füllen. So schickte man uns Holz hacken in den Maquis, in den wirklichen Maquis. Vielleicht haben schon manche von den Maquis, den französischen Widerstandsgruppen, gelesen.?° Aber dieser Begriff entstand später, als sich französische Patrioten dorthin zurückzogen, um Widerstand zu leisten. Der wirkliche Maquis, oder wie er im Italienischen hieß, Macchia, ist ein dschungelhafter Buschwald, der in den Mittelmeergebieten durch den Jahrtausende dauernden Raubbau an den Eichenwäldern entstanden ist. Dieser Buschwald