OCR
Nach dem Sommer kam das endgültige Aus für unsere Gruppe der Ex-prestataires. Man vermittelte uns Arbeitsplätze und wir wurden in alle Winde zerstreut. Ich nahm also etwas wehmütig Abschied von Béziers, wo ich mich recht wohl gefühlt hatte, und wanderte allein ins östliche Nachbardepartement Gard, wo der kleine Ort Aigues-Vives mein neuer Arbeits- und Wohnort wurde. Bemerkenswert an dem Ort war und ist nur, daß er zu den wenigen in Südfrankreich gehört, die aus der großen Hugenottenzeit protestantisch geblieben sind. Ansonsten war es ein Weinort wie alle anderen in der Ebene am Mittelmeer. Wie in allen diesen Dörfern befand sich in der Mitte ein runder Platz, der leicht durch Absperrungen in eine Arena, in eine Stierkampfarena, umgewandelt werden konnte. Es wurden aber keine „wirklichen“ Stierkämpfe mit Umbringen des Stieres veranstaltet, sondern eine Art „Hetz“, bei der die Burschen versuchen mußten, den Stieren Rosetten zwischen die Hörner zu stecken. Ich schreibe das in Vergangenheit, aber vielleicht gibt es das alles noch heute.’ Nun, in diesem Ort wurde ich auch verwaltungsmafig, oder besser rechtlich, endgiiltig ein Zivilist. Ich bekam vom Gemeindesekretär die von allen Ausländern in Frankreich heißbegehrte Arbeitskarte, mit der man sich frei bewegen und ohne jede Beschränkung jede Arbeit annehmen kann. Ich mußte natürlich vorher einen Fragebogen ausfüllen, in dem ich in der betreffenden Rubrik angab, daß ich Kriegsfreiwilliger war. Als mir also der Sekretär quasi feierlich die Arbeitskarte überreichte, meinte er, nachdem ich ein Freiwilliger wäre, könnte ich ja Ordner beim nächsten Stierkampf sein. Ich wagte nicht, nein zu sagen, aber wohl war mir natürlich nicht bei dem Gedanken, da mitspielen zu müssen. Zum Glück hatten es sich die Organisatoren, die Aficionados, wie sie ganz Spanisch heißen'", anders überlegt, sie kamen darauf, daß ich doch nicht der richtige Fachmann dafür wäre und ich wurde nicht einberufen. Mein wirklicher Job aber war, klarerweise in dieser Gegend, in der Weinbranche. Diesmal nicht bei der Weinlese, sondern in der Verarbeitung der Trebern'® zu Schnaps. Unterkunft fand ich bei einer Familie aus Metz, der Hauptstadt des Departements Moselle, einem älteren Ehepaar und ihrem Sohn. Die machten mich gleich mit einer Truppe, wenn man es so nennen will, von Elsässern bekannt. Diese bestand aus einer Frau mit sechs Kindern von vier bis vierzehn Jahren, deren Mann, ein Jude, irgendwo in der besetzten Zone arbeitete, und einem Ingenieur mit drei Kleinkindern, Mulatten, deren Mutter, eine Mulattin von der französischen Karibikinsel Martinique, geisteskrank in einer Heilanstalt interniert war. Sie erzählten mir von ihrem Schicksal. Nach dem, was sie mir berichteten, war eine der ersten „Taten“ der braundeutschen Verwaltung, Elsaß-Lothringen von „fremden Elementen“ zu säubern. Alle, die mit nicht elsässischen Franzosen, Juden oder Negern verwandt waren, mußten sofort das Land verlassen. So stellten sie der Frau mit den sechs Kindern ein Ultimatum: Entweder sich sofort von ihrem jüdischen Mann scheiden zu lassen oder binnen 24 Stunden das Land zu verlassen. Da sie die Scheidung ablehnte, ließ man ihr nicht einmal die 24 Stunden Zeit. Der Ingenieur mußte bedingungslos binnen drei Tagen das Land verlassen. Bei der Familie aus Metz lag die Sache etwas anders. Zunächst erzählten sie mir, daf$ Metz gleich nach der Eroberung seinen Gauleiter bekam und zwar Bürckel!%, der vorher Gauleiter von Wien war. Der hielt gleich den Einwohnern eine markige Ansprache, in der er unter anderem sagte: „Ich bin mit den Wienern fertiggeworden, und so werde ich mit euch auch fertigwerden!“ Bürckel hat sich übrigens beim Zusammenbruch der deutschen Wehrmacht in Frankreich 38 _ ZWISCHENWELT im Herbst 1944 selbst umgebracht, weil er zu früh kapituliert hatte.'"” Die Eroberung von Metz durch die Amerikaner hatte sich wider Erwarten verzögert. Nun, die Metzer hätten, was das „Völkische“ anlangt, ohne weiteres bleiben können. Dabei sprachen die Alten nur ein sehr mangelhaftes Französisch, da sie noch im kaiserlichen Deutschland aufgewachsen waren.'!”® Sie hatten mit Schrecken bemerkt, daß ihr 17jähriger Sohn mit ein paar deutschen SSlern Freundschaft geschlossen hatte und hatten Angst, daß er da irgendwie hineinrutschen könnte. Sie begannen, lauthals und öffentlich antideutsche Bemerkungen zu machen und sofort mußten sie alle drei Wohnung und Werkstatt — er war Tapezierer — stehen- und liegenlassen und nach Innerfrankreich auswandern. Die Alten hatten erreicht, was sie wollten. Ich wurde sofort in die Gemeinschaft dieser Leute, sozusagen als Schicksalsgenosse, aufgenommen. Und wurde von ihnen „Monsieur Sepp“ gerufen. So wurde aus einem Wiener Joschi ausgerechnet im Süden Frankreichs ein Sepp.'” An den Tagen saßen wir stundenlang bei ein paar GlaserIn Wein, das war das einzige, was nicht Mangelware war, und endlosen Palavern beisammen. So konnte ich schließlich auch schon gut ihren Dialekt, das „Alsasser Dütsch“, verstehen, das mit dem „Schwyzer-Dütsch“ verwandt ist. So weit, so gut. Allgemein erhöhte sich die Zuversicht, daß die Alliierten Hitlerdeutschland besiegen würden, nach dem Eintritt der USA in den Krieg im Dezember 1941 beträchtlich, in gleichem Ausmaße verlor aus diesem Grund Petain an Anhängerschaft. Die Kehrseite der Medaille war die immer schwieriger werdende Lage. Die Reden und auch die Gedanken drehten sich bald nur ums Essen. Brot wurde knapp, nur mit Sardinen und Weinbergschnecken konnte man nicht leicht den Magen füllen. Schließlich ging meine Arbeit zu Ende. Es war ja nur eine Saisonarbeit. So durchstöberte ich die Zeitungen nach einem Arbeitsplatz irgendwo in einem möglichst kleinen Ort in Zentralfrankreich, von wo das Gerücht ausging, daß man sich dort sattessen könnte. „Wer suchet, der findet“, heißt es so schön. Da suchte man irgendwelche Hilfsarbeiter in einem kleinen Kaff, Saint Hilaire, im Departement Allier, wo sich auch die Hauptstadt von „Petainfrankreich“, der Badeort Vichy, befindet. Ich machte mich also auf den Weg in das gesegnete Land. Nach einer längeren Fahrerei kam ich dort an. Mein erster Weg war in ein Wirtshaus. Erstens hatte ich Hunger und zweitens wollte ich ja sehen, wie es hier um die Ernährungslage bestellt sei. Es war keine Essenszeit — so irgendwann am Nachmittag — und ich fragte fast schüchtern, ob ich was zu essen haben könnte. Die Wirtin nickte, fragte auch nicht, was ich haben wolle, und brachte mir nach einer Weile ein ganzes Hendel und einen Berg von mit Butter angemachten Karotten. Ich sah mich zunächst heimlich um, vielleicht war das Ganze doch noch für zwei, drei, andre bestimmt? Nein, ich war eindeutig allein in der Wirtsstube, und so machte ich mich über das Ganze her und fraß, man kann das nur so nennen, alles zusammen, obwohl ich normalerweise ein Karottengegner bin, aber Hunger ist ja bekanntlich der beste Koch. Da meine Verdauungsorgane so lange an karge und fettlose Kost gewöhnt waren, reagierten sie mit einige Tage andauerndem Durchfall. Nun mußte ich mich aber um die Arbeit umsehen. Wieder war die Arbeit eine kriegsbedingte. Und wieder hatte sie mit Treibstoffmangel zu tun, aber diesmal schon direkter mit dem der deutschen Wehrmacht. Arbeit in der Treibstoffbranche